Editionsprinzipien

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© Arnold Schönberg Center, Wien

Den unter Konzeption dargelegten Vorgaben entsprechend werden im Rahmen der Gesamtausgabe Notentexte vorgelegt, die sich sowohl hinsichtlich ihres Orts im Kompositionsprozeß als auch in ihrer ­Geltung als Werk, in ihrem Werkcharakter, beträchtlich voneinander unterscheiden. Dem haben die Editionsgrundsätze Rechnung zu tragen: Der Werkedition auf der einen Seite steht die Quellenedition auf der anderen gegenüber; die Ausgabe der vollendeten Kompositionen zielt auf einen authentischen Text des Werkes, dem nach kritischer Sichtung aller verfügbaren Quellen eine oder mehrere Hauptquellen zugrunde liegen, der Abdruck der Skizzen dagegen soll den Text der jeweiligen Quelle so getreu wie möglich wiedergeben.

Die Gesamtausgabe nimmt für sich in Anspruch, eine wissenschaftliche zu sein und doch zugleich der musikalischen ­Praxis zu dienen. Resultiert aus dem ersten Anspruch die Forderung, das überlieferte Quellenmaterial lückenlos zu erfassen und kritisch auszuwerten, so aus dem zweiten, die Kompositionen, deren Aufführung möglich und intendiert ist, in einer Form vorzulegen, die der praktischen Realisierung förderlich ist.

Das Kriterium der Aufführbarkeit – und im Zusammenhang damit die Frage des kompositorischen Ranges – betrifft die Fragmente. Grundsätzlich muß die Behauptung verneint werden, daß das Nichtvollendetsein an sich eine Wertmin­derung impliziert – zumal wenn man die hohe Bedeutung von Fragmenten Schönbergs, etwa von Moses und Aron, in Betracht zieht. Dies vorausgesetzt, ist die Frage nach dem Gewicht von Fragmenten auf die nach ihrem Umfang und dem Grad des Definitiven im Produktionsprozeß zu reduzieren. Ein Urteil darüber beantwortet in der Regel auch die Frage nach der Aufführbarkeit.

Bei den unvollendeten Kompositionen sind wenigstens vier Stufen zu unterscheiden:

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© Arnold Schönberg Center, Wien

Nur die letzte Gruppe der Fragmente kommt im Rang den vollendeten Kompositionen nahe (oder gleich); sie werden gemäß den Prinzipien der Werkedition vorgelegt. Die ersten zwei Gruppen können als Entwürfe im weiteren Sinne zusammengefaßt werden; für sie sind – wie für die Skizzen – die Prinzipien der diplomatischen Quellenedition maßgebend. Eine Zwischenstellung nehmen die Fragmente der dritten Gruppe ein; da bei ihnen weniger die Darbietungsform der Quelle als vielmehr ihr Inhalt von Belang ist, der nicht durch äußerliche Ungereimtheiten der Quelle verunklart ­werden soll, wird für sie eine dritte Art der Publikation gewählt, die die Mitte hält zwischen Werk- und Quellenedition und als Inhaltsedition bezeichnet werden kann.

Die Frage, ob eine Aufführung intendiert und angemessen sei, betrifft in erster Linie die verschiedenen Fassungen vollendeter Werke. Auf der einen Seite hat Schönberg zahlreiche seiner Kompositionen für andere Besetzungen bearbeitet; diese Arrangements eigener Werke sind hinsichtlich der praktischen Realisierung den Originalkompositionen ­gleichzustellen und werden dementsprechend gemäß den Prinzipien der Werkedition herausgegeben (z. B. in Band 5 der Reihe A S. 29ff. die Fassung der Zweiten Kammersymphonie für zwei Klaviere, op. 38 B, oder in Band 12 der Reihe A S. 71ff. die Bearbeitung der ersten Kammersymphonie für Orchester, op. 9 B). Auf der anderen Seite existieren von einigen Kompositionen Erst- oder Frühfassungen, die Schönberg – meist in der gleichen Besetzung – überarbeitet und damit als ungenügende Vorstufen der letztlich intendierten Werkgestalt qualifiziert hat (vgl. bei den Liedern vor allem die Opera 1, 3 und 6, bei denen die endgültige Fassung nur in wenigen Fällen die erste unangetastet ließ). Da ihre Aufführung als vollgültige Werke dem Urteil des Komponisten entgegenstünde, werden die Frühfassungen nicht als Werke ediert. Aber auch bei ihnen kommt es weniger auf die äußere Darbietung der Quelle, durch die sie überliefert sind, sondern auf den Inhalt an; daher bietet die Gesamtausgabe solche Frühfassungen in der Form der Inhaltsedition.