Zur Geschichte der Schönberg-Gesamtausgabe

(Auszug aus: Ulrich Krämer, „Die Editionen der Werke Arnold Schönbergs,“ in: Musikeditionen im Wandel der Geschichte, hg. von Reinmar Emans und Ulrich Krämer [= Bausteine zur Geschichte der Edition, hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta, Bd. 5], Berlin: De Gruyter, S. 639–665).

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© Arnold Schönberg Center, Wien

Die Arnold Schönberg Gesamtausgabe wurde im Dezember 1965 von Schönbergs Schüler und späterem Assistenten Josef Rufer am Sitz des Mainzer Musikverlags B. Schott’s Söhne ins Leben gerufen. Für die Finanzierung konnte zunächst die Stiftung Volkswagenwerk gewonnen werden, bis die Ausgabe 1980 in das Akademienprogramm aufgenommen wurde. Seitdem wird sie von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur betreut. Der in erster Linie von Schönbergs Witwe Gertrud zusammen mit dem damaligen Vizepräsidenten der Berliner Akademie der Künste Boris Blacher betriebene Plan einer vollständigen Werkausgabe reicht bis in die 1950er Jahre zurück, als Rufer im Auftrag der Akademie – der Nachfolgeinstitution der Preußischen Akademie der Künste, an der Schönberg bis zu seiner erzwungenen Emigration im März 1933 eine Meisterklasse für Komposition geleitet hatte – den Nachlaß des Komponisten sichtete und unter dem Titel Das Werk Arnold Schönbergs das erste annähernd vollständige Werkverzeichnis publizierte.

Die Anfänge gestalteten sich schwierig, da zunächst sämtliche Verlage, bei denen Schönbergs Kompositionen erschienen waren – in erster Linie die Universal Edition, mit der man sich auf eine gemeinsame Herausgeberschaft einigte –, für das Projekt gewonnen werden mußten. Vor allem aber waren die Herausgeber der ersten Bände in den wissenschaftlichen Methoden, die zu den Voraussetzungen einer historisch-kritischen Gesamtausgabe gehören, kaum bewandert. Da sich jedoch gerade das Werk Schönbergs in einer mit kaum einem anderen Komponisten vergleichbaren Fülle an unterschiedlich­en Quellentypen, in einer Vielzahl eigenständiger Werkfassungen sowie in unzähligen Dokumenten und Aufzeichnungen manifestiert, die es im Rahmen einer kritischen Ausgabe zu berücksichtigen gilt, zwangen die sich aus der unzulänglichen Vorbereitung ergebenden Probleme bald zu einer „schrittweisen Revision der Zielvorstellungen und Arbeitstechniken“, die schließlich eine vollständige Neudisposition der Ausgabe zur Folge hatte.1

Es war von Anfang an das erklärte Ziel der Schönberg-Ausgabe, das kompositorische Schaffen des Komponisten in seiner ganzen Breite der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zum Gesamtwerk zählen demnach auch die Frühfassungen und die Bearbeitungen eigener und fremder Kompositionen, soweit sie von Schönberg selbst zu den Werken gezählt wurden, sowie die Skizzen und Entwürfe, die nach der ursprünglichen Planung überwiegend faksimiliert und zusammen mit dem Revisionsbericht dem jeweiligen Band beigebunden werden sollten. Spätestens bei der Drucklegung des von Rufer vorbereiteten ersten Bandes mit den zu Lebzeiten des Komponisten publizierten Liedern, der 1966 ohne den Revisionsbericht erschien, stellte sich jedoch die Unhaltbarkeit dieses Plans heraus. So ist bereits im Vorwort zur Gesamtausgabe, das in den beiden zuerst erschienenen Bänden abgedruckt ist, „auf Grund des reichhaltigen Materials“ von einer Zweiteilung der Ausgabe die Rede, der zufolge Reihe A „den Notentext in der aus Original- und Erstdrucken sowie aus den anderen Quellen abgeleiteten Fassung“ enthält, während Reihe B für „den getrennt erscheinenden Komplementband mit eventuellen Frühfassungen und Skizzen, sowie gegebenenfalls unvollendete Werke und anschließend den Revisionsbericht“ vorbehalten ist. Die aus der Not geborene Teilung der Gesamtausgabe in zwei Reihen erwies sich als Glücksgriff, da sie sowohl die bequemere Handhabbarkeit des Revisionsberichts als auch die bessere Vergleichbarkeit unterschiedlicher Fassungen ein und desselben Werks gewährleistete. Sie wurde daher bei der fälligen Neudisposition der Ausgabe, mit der die beiden Musikwissenschaftler Rudolf Stephan und Carl Dahlhaus u. a. aufgrund ihrer Besprechungen des ersten Gesamtausgabenbandes betraut worden waren,2 beibehalten. Gemäß der Neukonzeption sind die Bände der Reihe A im Folioformat ausschließlich den vollendeten sowie den unvollendeten, jedoch aufführbaren Werken einschließlich der Bearbeitungen vorbehalten, während die der Reihe B im Quartformat den Kritischen Bericht – bestehend aus Quellenbeschreibungen, Lesarten und Textkritischen Anmerkungen –, die Skizzen einschließlich ihrer Kommentierung, die wichtigsten Dokumente zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte sowie Hinweise zum Verständnis der im A-Band vorgelegten Werke enthalten.

Nicht nur hinsichtlich der Anlage, sondern auch in bezug auf die Editionstechnik zog die Neukonzeption die gebotenen Konsequenzen aus der Zweiteilung der Ausgabe, insofern nämlich die Bände der Reihe A „grundsätzlich die Ergebnisse der kritischen Revision vorführen, nicht diese selbst“.3 Dies bedeutete vor allem, daß bei der Edition der Werke auf die von Rufer im Liederband verwendete graphische Differenzierung von Herausgeberzusätzen etwa durch Fußnoten, Kleinstich, Strichelung, eckige Klammern und Kursivierung verzichtet wurde. Nachdem unter der neuen Ägide drei weitere Bände der Schönberg-Gesamtausgabe vorbereitet worden waren, die innerhalb der nächsten Jahre erschienen – der von Steuermann noch kurz vor seinem Tod 1964 in Angriff genommene, schließlich von Reinhold Brinkmann fertiggestellte Band 4 mit den Werken für Klavier zu zwei Händen (1968), der auf Drängen des Verlages von Richard Hoffmann zum Druck vorbereitete Band 7 mit der Oper Von heute auf morgen (1970) und der von Rudolf Stephan herausgegebene Band 26 mit der Bearbeitung von Brahms’ erstem Klavierquartett op. 25 für Orchester (1972)  –, wurden als wichtigste Konsequenz der Neuordnung der Ausgabe im April 1969 die Editionsarbeiten nach Berlin verlegt, wo eine eigene Forschungsstelle mit entsprechend qualifizierten Mitarbeitern unter der Leitung von Rudolf Stephan die Arbeit mit der systematischen Erfassung der handschriftlichen Quellen und der Originaldrucke sowie der Konzeption und Erarbeitung der einzelnen Bände aufnahm.

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© Arnold Schönberg Center, Wien

Die sich im Zuge der Neudisposition der Gesamtausgabe herausbildenden Editionsprinzipien mußten sowohl dem auf den Methoden der Textphilologie beruhenden wissenschaftlichen Anspruch der im 19. Jahrhundert begründeten Denkmäler-Ausgaben als auch den spezifischen Besonderheiten des Schönbergschen Œuvres Rechnung tragen. Da sie an keine unmittelbaren Vorbilder anknüpfen konnten – die historischen Voraussetzungen der großen, in den 50er Jahren in Angriff genommenen Gesamtausgaben der Werke Bachs und Mozarts waren eben ganz andere als im Falle Schönbergs –, war die Erprobung und Formulierung dieser editorischen Grundsätze Teil eines langwierigeren Prozesses. Die Heterogenität des Gesamtwerks hatte zur Folge, daß die Editionsprinzipien zunächst mit jedem Band neu zur Disposition standen. Dennoch gelang es im Lauf der Arbeit, Kriterien zu entwickeln, die einerseits flexibel genug waren, um auf die unterschiedlichen Werke angewendet werden zu können, und die andererseits genügend verbindlich waren, um der Schönberg-Gesamtausgabe ein eindeutiges Profil zu verleihen. Diese Editionsprinzipien wurden erstmals in dem 1984 erschienenen Kritischen Bericht zu den beiden letzten Streichquartetten op. 30 und 37 und zum Streichtrio op. 45 umfassend dokumentiert.

Aufgrund ihrer den Maßstäben der modernen Editionsphilologie verpflichteten Methoden ist die Schönberg-Gesamtausgabe die einzige Ausgabe der Werke dieses Komponisten, die sich mit Recht eine wissenschaftliche nennen kann. Darüber hinaus hat sie jedoch auch zahlreiche Kompositionen und authentische Werkfassungen erstmals zugänglich gemacht. Hierzu zählen etwa die instrumentalen Frühwerke, die Schönbergs Cousin Hans Nachod vor ihrer Vernichtung durch den Komponisten bewahrt hat, der Großteil der Jugendlieder nebst den zahlreichen Liedfragmenten, die Frühfassungen der veröffentlichten Lieder, die teils fragmentarisch hinterlassenen Frühwerke für Orchester (Serenade, symphonische Dichtung Frühlings Tod, Gavotte und Musette (im alten Style) für Streichorchester), die Klavierfassungen des ersten und zweiten Teils der Gurre-Lieder, die eigenhändigen Klavierauszüge der ersten Kammersymphonie op. 9 und des Monodrams Erwartung op. 17, die Bearbeitung der Fünf Orchesterstücke op. 16 für Kammerensemble, die fragmentarische Frühfassung der zweiten Kammersymphonie op. 38 oder auch die frühe Orchesterbearbeitung der ersten Kammersymphonie op. 9.

Ein entscheidender Beitrag der Gesamtausgabe nicht nur zur Schönberg-Forschung, sondern zum Editionswesen insgesamt liegt in der mustergültigen Erschließung des Skizzenmaterials zu den einzelnen Werken. Das Studium der in den B-Bänden im jeweiligen Werkkontext abgedruckten und kommentierten Skizzen hat dazu geführt, daß Schönbergs Kompositionstechnik im besonderen wie auch der Kompositionsvorgang im allgemeinen heute in einem anderen Licht erscheinen als noch zu Beginn der Ausgabe. Sie verdeutlichen nicht nur, wie mühevoll und voller Umwege das Ringen um die allmähliche Herausbildung der Zwölftonmethode und der mit ihr verbundenen Gesetzmäßigkeiten wie etwa dem Prinzip der „Combinatoriality“ war, sondern sie zeigen auch, wie sehr Schönberg bei der Komposition auf seine Intuition vertraute, und relativieren auf diese Weise das weit verbreitete Bild des rationalen, ausschließlich kopfgesteuerten Komponisten. Vor allem aber werden durch das Studium der Skizzen die Denkprozesse jener Komponistenpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts nachvollziehbar, die wie wohl keiner ihrer Zeitgenossen das Denken in und über Musik geprägt hat und die auf diese Weise – um ein Diktum Carl Dahlhaus’ aufzugreifen – zum „Präzeptor einer ganzen Epoche“ geworden ist.4

1 Vgl. Stephan, „Schönberg-Gesamtausgabe,“ in: Musikalisches Erbe und Gegenwart, S. 70.

2 Die Besprechung von Dahlhaus erschien unter dem Titel „Die Schönberg-Gesamtausgabe beginnt“ in: Melos 34 (1967), S. 116–118, die von Stephan in: Neue Zeitschrift für Musik 128 (1967), S. 83f.

3 Stephan, „Zur Gesamtausgabe,“ in: Strecker-Festschrift, S. 85.

4 Carl Dahlhaus, „Schönberg als Lehrer,“ in: Österreichische Musikzeitschrift 39 (1984), S. 282. – Der Aufsatz ist in den bei Laaber erschienenen Gesammelten Schriften nicht enthalten.