Rudolf Stephan

Rezension von Schönberg, Sämtliche Werke, Reihe A, Bd. 1 (1967)

Der zuerst erschienene Band der Schönberg-Gesamtausgabe ist zugleich auch numerisch der erste. Er eröffnet also in doppeltem Sinne ein Unternehmen, auf das sich seit einigen Jahren viele Hoffnungen konzentrieren. Im Gegensatz zu anderen neueren Gesamtausgaben, etwa der der Werke Regers‚ erscheint der Notentext vollständig neu gestochen und nicht etwa als bloß revidierter anastatischer Neudruck der Originalausgaben. Graphisch ist der erste Schönberg-Band sehr eindrucksvoll. Die Peter-Presse in Darmstadt, die vor Jahren schon für die Inselbücherei die Georgelieder neu gestochen hatte, hat sich als durchaus gleichberechtigt neben die berühmten alten Firmen gestellt. Nur ein Wunsch bleibt offen (er muß aber nicht an die Setzerei und Druckerei, sondern an die Herren, die den Umbruch überwachen, gerichtet werden): Die ersten Lieder einer Werkgruppe beginnen stets auf einer Rectoseite, wobei die vorangehende Versoseite grundsätzlich leer bleibt. Das hat zur Folge, daß man bisweilen bei zweiseitigen Liedern umblättern muß (vgl. S. 107, 115 und 165). Das könnte durch weniger strenge Befolgung der an sich schönen Disposition verhindert werden. Ästhetische Gesichtspunkte haben grundsätzlich hinter den praktischen zurückzutreten.

Der Band enthält sämtliche von Schönberg selbst veröffentlichten Lieder, also die opera 1, 2, 3, 6, 12, 14, 15 und 48, dazu zwei bisher ungedruckte Lieder ohne Opuszahl und die drei Volksliedbearbeitungen‚ die zuerst im III. Band (resp. 12. Heft) des „Volksliederbuchs für die Jugend“, das 1930 von einer staatlichen (preußischen) Kommission bei C. F. Peters in Leipzig herausgegeben wurde, erschienen sind. Über die Revision, die Rufer dem musikalischen Text hat angedeihen lassen, kann sich noch niemand ein Urteil bilden, da der Revisionsbericht noch nicht vorliegt. Er soll zusammen mit bisher unveröffentlichten Jugendliedern Schönbergs, deren sich wohl eine größere Zahl erhalten hat, in der Reihe B publiziert werden. Wenn man mit Rufer (Vorwort S. XIII a) als Jugendwerke die der Jahre 1893–97 anspricht, darf man weder das Goethelied „Deinem Blick mich zu bequemen“ von 1903 noch das im Jahre des Streichsextetts (1899) entstandene Hofmannsthal-Lied, von welchem Rufer in seinem Buch „Das Werk Arnold Schönbergs“ (1959, S. 83) spricht, zu den Jugendliedern zählen. Beide Lieder aber fehlen ohne Begründung in dem vorliegenden ersten Band. Aber man darf sicher sein, daß sie mit den Jugendliedern, zu denen sie selbst gleichwohl nicht gehören, im ersten Band der Reihe B veröffentlicht werden. Es ist zu hoffen, daß dieser Band bald erscheint, damit man sich ein Bild von der Revisionsarbeit machen und entscheiden kann, welchen Charakter die Ausgabe haben soll: ob es eine kritische Ausgabe oder eine bloß revidierte Ausgabe sein soll.

Die beiden erstmalig gedruckten Lieder verdienen einige Aufmerksamkeit. Das erste, „Gedenken“, nach einem mit den Worten „Es steht sein Bild noch immer da“ beginnenden Text, dessen Autor Schönberg auf dem einzigen erhaltenen Manuskript so wenig nennt wie das Kompositionsdatum, steht in B-Dur und verblüfft durch Kürze und motivische Dichte. Ihm liegt ein zweitaktiges melodisches Modell zugrunde, das ständig transponiert und variiert erscheint. Und in dem Abschnitt des zweiten Teils, in dem die Enge und Trostlosigkeit einer bürgerlichen Stube durch ein gleichförmig wiederkehrendes Oktavintervall (a'–a"), das zugleich das Ticken der Uhr als Zeichen des langsamen und bedrückenden Zeitablaufs dargestellt wird, liegt der Hauptgedanke im Baß. Das zweite Lied, „Am Strande“, nach einem Gedicht Rilkes, gehört sicher zu Schönbergs bedeutenden Leistungen auf dem Gebiet der Liedkomposition. Wann es entstanden ist, konnte bisher noch nicht endgültig geklärt werden. Schönberg selbst sagt in einer (wohl jüngeren) handschriftlichen Notiz auf dem Manuskript, es wäre vor den George-Gesängen op. 15 gleichzeitig mit den beiden Liedern op. 14, also im Winter 1907/08, komponiert worden, während an anderer Stelle des Manuskripts das Datum 8. 2. 1909 angegeben ist. Demnach wäre das Rilke-Lied nach den ersten 14 George-Liedern des op. 15 und nur wenige Tage vor den beiden ersten Klavierstücken des op. 11 entstanden. Beides scheint möglich. Für die frühe Entstehungszeit könnte die bloße Tatsache sprechen, daß es sich um ein Einzellied handelt, wohl scheint es näherliegend, ein solches Einzellied als Prolegomenon, denn als Epilegomenon zu konzipieren. Für die spätere Datierung sprechen technische Details, von denen wenigstens drei genannt seien: die gegenüber den Liedern op. 14 und vielen der Lieder op. 15 fortgeschrittenere Harmonik, die überaus strenge motivische Konstruktion – drei Zellen bilden den Ausgangspunkt: ein Arpeggio, ein Akkord und ein viertöniges Motiv – und das Klavierflageolett, das wohl in dem Klavierstück op. 11 Nr. 1 vom 19. 2. 1909, nicht aber im op. 15 erscheint. Ich glaube, die Argumente, die für eine spätere Entstehungszeit sprechen, also für die Richtigkeit der originalen Datierung, sind gewichtiger.

Den Platz dieser neuen Lieder in Schönbergs Entwicklung zu bestimmen, hat Rufer nicht versucht, obgleich es an einigen Stellen seines recht ausführlichen, instruktiven Vorworts nahegelegen hätte. Wenn Schönbergs frühe Datierung des Rilke-Liedes – was ich nicht glaube – richtig wäre, dann müßten wir in ihm die allererste atonale Komposition sehen, denn dann wäre es ja noch vor dem Finale des Quartetts op. 10 entstanden; wenn aber die spätere Datierung richtig ist, dann nimmt dieses Lied noch immer eine bedeutungsvolle Stelle zwischen den Liedem op. 15 und den Klavierstücken op. 11 ein. So treffend manche Bemerkung Rufers in seinem Vorwort ist – etwa die über die Funktion des Fünfklangs in dem Dehmel-Lied „Erwartung“ (op. 2 Nr. 1) –, so wenig erklärlich dürfte seine Behauptung sein, die Texte aller Schönbergschen Chöre wären, mit Ausnahme der von op. 50 A und op. 50 B, Dichtungen des Komponisten. Rufer weiß ebensogut wie jeder andere Kenner des Schönbergschen Œuvres, daß dem Chor „Friede auf Erden“ op. 13 ein Gedicht Conrad Ferdinand Meyers und den beiden Chören op. 27 Nr. 3 und Nr. 4 Gedichte aus Bethges Sammlung „Die chinesische Flöte“, aus der ja bekanntlich Mahler die Texte zum „Lied von der Erde“ genommen hat, zugrunde liegen.

Der prächtige Band wird eröffnet mit einer farbigen Reproduktion des Schönberg-Porträts von Egon Schiele vom Iahre 1917, ganz sicher einem der lebendigsten und künstlerisch bedeutendsten Schönberg-Bilder, das dem Musikfreund bisher nur in Schwarzweiß-Abbildungen in Büchern von Paul Stefan und Willi Reich bekannt war. Wenn auch die späteren Bände auf diese Weise geschmückt werden sollen, so möchte ich bitten, sich der Gemälde Richard Gerstls zu erinnern.

Die Schönberg-Gesamtausgabe hat mit dem vorliegenden Liederband in jeder Hinsicht vielversprechend begonnen. Wir wünschen der Ausgabe ein rasches Fortschreiten, damit das Werk dieses großen Komponisten, das wie kein anderes die Musik seiner und der nachfolgenden Zeit geprägt hat, vollständig in einer seiner Bedeutung würdigen Ausgabe vorliegt.