Vorwort zu Band 28 B
Der vorliegende Band enthält den Revisionsbericht zu den in Band 28 der Reihe A veröffentlichten Bearbeitungen und Gelegenheitswerken für Kammerensemble sowie im Anhang vier Stücke, die zu den frühesten überlieferten Kompositionen Schönbergs gehören.
Die meisten der hier behandelten Stücke sind in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne zwischen 1919 und 1922 entstanden. In dieser Zeit war Schönbergs Existenz in hohem Maße durch seine Tätigkeit für den von ihm Ende 1918 ins Leben gerufenen Verein für musikalische Privataufführungen bestimmt. Zwischen Dezember 1918 und Ende 1921 veranstaltete dieser Verein sogenannte Vereinsabende in Form von über 100 ein- bis zweimal pro Woche stattfindenden Konzerten, in denen neuere Kammermusik in Originalbesetzung oder Orchesterwerke in Bearbeitungen vorgetragen wurden. Neben den ausschließlich den Mitgliedern des Vereins vorbehaltenen Konzerten wurden auch sogenannte Propaganda-Abende veranstaltet, in denen oft Bearbeitungen in etwas größeren Besetzungen erklangen. Schönberg steuerte für diese die Bearbeitungen von Gustav Mahlers Lieder eines fahrenden Gesellen sowie von den Walzern Rosen aus dem Süden und Lagunen-Walzer von Johann Strauß bei. Außerdem begann er die Bearbeitung von Max Regers Eine romantische Suite, die von Rudolf Kolisch fertiggestellt wurde.
Die Quellenlage ist für die vier Stücke jeweils unterschiedlich: Von der Mahler-Bearbeitung erstellte Schönberg keine gesonderte Partitur, sondern trug seine Änderungen in die Originalpartitur ein, was beim Ausschreiben der Stimmen Probleme mit sich brachte. Für die Bearbeitung von Regers Romantischer Suite liegt eine von Schönberg begonnene und von Kolisch mit leicht erweiterter Besetzung fortgeführte Partitur vor. Für die beiden Walzer-Bearbeitungen dienten vermutlich nicht die originalen Orchesterfassungen, sondern Klavierauszüge als Vorlage, so daß die Herstellung einer Partitur der Bearbeitung zumindest als Vorlage für die Stimmen unumgänglich war. Da die handschriftlichen Partituren im Anschluß an das Konzert versteigert wurden (nach derzeitigem Wissensstand hat sich nur Schönbergs Partiturautograph von Rosen aus dem Süden erhalten), sind neben den Stimmen vermutlich in beiden Fällen Partiturabschriften angefertigt worden. Überliefert ist allerdings allein die Kopistenabschrift des Lagunen-Walzers. 1925 entstand Schönbergs Bearbeitung des Kaiserwalzers von Johann Strauß. Sie wurde für eine Konzertreise nach Barcelona geschrieben, in deren Rahmen teils klassische, teils eigene Werke – u. a. Pierrot lunaire, an dessen gemischter Quintettbesetzung sich die Auswahl der übrigen Werke orientierte – zur Aufführung gelangten.
Die übrigen, meist deutlich kürzeren Bearbeitungen und Gelegenheitswerke des vorliegenden Bandes entstanden nicht für institutionell gebundene Räume, sondern für einen privaten oder familiären Rahmen, weshalb sich dabei ein konkreter Anlaß zwar vermuten, aber nur selten zweifelsfrei belegen läßt. Aufgrund ihrer Besetzung und Überlieferung bilden die Bearbeitungen von Franz Schuberts Ständchen sowie der Stücke Funiculi, funicula von Luigi Denza und Weil i a alter Drahrer bin von Johann Sioly eine gewisse Einheit. So schließen die Partiturniederschriften der Bearbeitungen von Denza und Sioly unmittelbar aneinander an, und die Schubert-Bearbeitung ist auf derselben Sorte Notenpapier niedergeschrieben wie die Schlußseite des Sioly-Arrangements. Josef Rufer teilt mit, daß das Ständchen und einige weitere als Instrumentationsübungen bezeichnete Stücke im Sommer 1921 entstanden sind (vgl. Rufer, S. 111). Dem entspricht der Befund des Notenpapiers, das Schönberg nachweislich im September/Oktober 1921 für die Serenade op. 24 verwendete.
Über die Entstehung des Marsches Die eiserne Brigade, in den militärische Signale und Liedausschnitte integriert sind, vermerkte Schönberg auf der Titelseite der überlieferten Kopistenabschrift, daß er das Stück während seiner Stationierung in Bruck an der Leitha im Frühjahr 1916 für einen Einjährigen-Kameradschafts-Abend komponierte. Die beiden Stücke Weihnachtsmusik und Gerpa waren hingegen für den häuslichen Gebrauch bestimmt: Die Weihnachtsmusik entstand, wie die Datierungen in den Quellen belegen, für das Weihnachtsfest 1921. Der Komposition liegen die beiden Weihnachtslieder Es ist ein Ros entsprungen und Stille Nacht zugrunde, die auf vielfältige Weise kontrapunktisch miteinander verwoben werden. Die Komposition mit dem nicht ganz geklärten Titel Gerpa, die Schönberg nicht vollendet hat, ist im Herbst 1922 begonnen worden. Für die vorgesehenen fünf Instrumente werden nur zwei Spieler benötigt, da sich mit jeder Variation die Besetzung ändert und jeweils einer der Instrumentalisten (vermutlich Schönbergs Sohn Georg sowie der Komponist selbst) das Instrument wechselt.
Die vier Bearbeitungen, die sich am Schluß des Bandes befinden, entstammen einem Notenbuch, das Schönberg in den 1880er-Jahren benutzte. Es enthält kleine Bearbeitungen, später auch erste kürzere eigene Kompositionen (jeweils für zwei Violinen), die er dann mit Mitschülern gespielt hat. Diese Stücke führen uns zu den allerersten Anfängen von Schönbergs musikalischer Sozialisation, die sich zunächst fernab von Werken der Komponisten Wagner oder Brahms bewegten und ihren Ausgangspunkt u. a. in der italienischen Oper des frühen 19. Jahrhunderts und der Unterhaltungsmusik hatten.
Die Tatsache, daß es sich bei sämtlichen Stücken in diesem Band um Bearbeitungen und Gelegenheitswerke handelt, die zu Lebzeiten des Komponisten ungedruckt blieben, hat Konsequenzen für den editorischen Umgang mit den Quellen. Sowohl die Quellen selbst als auch einige wenige Briefzeugnisse zeigen, daß sie bisweilen unter erheblichem Zeitdruck angefertigt wurden, weshalb es nicht in jedem Fall zu einem im Detail durchgearbeiteten und in allen Parametern vollständig und stimmig notierten Notentext gekommen ist. Die endgültige Werkgestalt ergab sich somit – stärker als bei anderen Werken – erst beim Musizieren, das vielleicht auch vom Abwägen und Ausprobieren, von der spontanen Musiziersituation abhängig war. Für die Edition mußte daher ein Kompromiß gefunden werden, bei dem einerseits die Entstehungsumstände nicht durch allzu große Eingriffe nivelliert werden, andererseits jedoch eine aufführbare Fassung geboten wird. Insbesondere im Fall der häufig widersprüchlichen, sowohl klingend als auch mit Registrierungsanweisungen notierten Harmoniumstimmen sah sich der Herausgeber des Notenbandes häufig zu Eingriffen in den überlieferten Notentext gezwungen (vgl. die entsprechenden Vorbemerkungen zu den Textkritischen Anmerkungen).
Der Herausgeber des Notenbandes wie auch die Autoren des hier vorgelegten Kritischen Berichts danken den zahlreichen Institutionen und Personen, die bei der Beschreibung, Interpretation und Auswertung der Quellen behilflich waren. In gewohnt professioneller und selbstloser Weise unterstützten Therese Muxeneder und Eike Fess, die beiden Archivare des Arnold Schönberg Centers, die Arbeit an diesem Band. Dank schulden wir auch der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky in Hamburg (Jürgen Neubacher), der Library and Archives Canada in Ottawa (Alexandra McEwen), der Houghton Library der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, dem Archiv des Verlags Schott Music (Monika Motzko-Dollmann), schließlich der Bibliothek der University of North Texas in Denton (Andrew Justice) sowie Oliver Neighbour. Besonderer Dank schließlich gebührt Martin Schubert, Berlin, ohne dessen Expertise bei der Interpretation der Harmoniumstimmen eine Edition der entsprechenden Stücke, die auch den Erfordernissen der musikalischen Praxis Rechnung trägt, nicht möglich gewesen wäre. Ihnen allen sei herzlich gedankt.
Berlin, im September 2013
Martin Albrecht-Hohmaier, Ullrich Scheideler