Vorwort zu Band 16, 2 A
Der vorliegende Band der Gesamtausgabe bietet eine Reproduktion des Autographs der Gurre-Lieder nach der stark verkleinerten Faksimileausgabe, die im November 1912 in einer Auflage von 500 Exemplaren erschienen ist und von der Universal Edition als Studienpartitur vertrieben wurde (vgl. Quelle D). Dieser heute seltene Originaldruck blieb neben dem im Januar 1913 erschienenen Klavierauszug von Alban Berg bis zum Erscheinen der revidierten, im Folioformat gestochenen Partitur im August 1920 die einzige Ausgabe des Werks. Für Aufführungen standen bis dahin nur das Autograph selbst sowie eine im selben Format hergestellte Abschrift zur Verfügung. Die große Bedeutung der Studienpartitur für die Überlieferung der Gurre-Lieder liegt jedoch weniger in ihrem Seltenheitswert, als vielmehr darin, daß sie als einzige Quelle den Notentext in der Gestalt überliefert, in der Schönberg ihn mit zahlreichen Unterbrechungen in den Jahren 1901 bis 1911 zu Papier gebracht hatte – einschließlich jener drei in der gestochenen Partitur ergänzten bzw. gestrichenen Takte I/809, I/1091a und III/68a. Anhand des Autographs selbst läßt sich die „Fassung erster Hand“ nämlich aufgrund der zahlreichen, mit seiner Verwendung als Dirigierpartitur und Stichvorlage zusammenhängenden nachträglichen Farbstift- und Tinteneintragungen nicht mehr rekonstruieren. Insbesondere die auf ein deutlicheres Hervortreten der instrumentalen Haupt- sowie der Gesangsstimmen zielenden Instrumentationsretuschen verdecken den ursprünglichen Notentext häufig derart, daß eine Sichtbarmachung nur mit Hilfe aufwendiger technischer Verfahren möglich wäre. Und bei den nachträglichen Eintragungen mit schwarzer Tinte schließlich ist eine Unterscheidung von der tintenschriftlichen Grundschicht in den meisten Fällen gänzlich ausgeschlossen.
Die Reproduktion des Autographs nach der Faksimileausgabe von 1912 bietet jedoch nicht nur die Möglichkeit, den Notentext in der originalen, noch nicht aufgrund der Aufführungen von 1913 und 1914 revidierten Gestalt mit der Fassung der gestochenen Ausgabe von 1920, die dem in Band 16,1 der Reihe A vorgelegten Notentext der Gesamtausgabe zugrunde liegt, zu vergleichen, sondern sie veranschaulicht darüber hinaus einen wichtigen Aspekt der Entstehungsgeschichte des Werks. Das langsame, durch häufige, teils lange Unterbrechungen gekennzeichnete Fortschreiten der Instrumentation hat nämlich Spuren im Manuskript hinterlassen, die sich als Veränderungen der Schönbergschen Notations- und Schreibgewohnheiten manifestieren. Diese Änderungen betreffen z.B. unterschiedliche Schlüsselformen, wechselnde Instrumentenbezeichnungen, eine unterschiedliche Akkoladenklammerung oder auch die abwechselnde Verwendung deutscher und italienischer Spielanweisungen. Den deutlichsten Einschnitt im Autograph hat freilich die auf die langjährige Unterbrechung im „Lied des Bauern“ folgende Wiederaufnahme der Arbeit im Sommer 1910 bewirkt, die an der Verwendung eines vom Komponisten selbst entworfenen, kleinerformatigen und enger rastrierten Notenpapiers zu erkennen ist. Schönberg hatte nämlich zwischenzeitlich nicht mehr an eine Fertigstellung der Partitur geglaubt und infolgedessen seinen Vorrat an 48zeiligem Notenpapier für andere Zwecke aufgebraucht.
Ein weiterer Vorzug des Nachdrucks der Studienpartitur als eigenständiger Band der Gesamtausgabe liegt in der Entlastung des Kritischen Berichts und – damit zusammenhängend – in der unmittelbaren Veranschaulichung der dort zusammengestellten Unterschiede zwischen den Fassungen erster und letzter Hand. Über Abweichungen zwischen dem Autograph in der Fassung von 1912 und der Faskimileausgabe, die auf Unzulänglichkeiten der fotographischen Reproduktion oder eine versehentliche Retuschierung bei der Herstellung der Studienpartitur zurückgehen, gibt eine entsprechende, der Beschreibung der Quelle D beigegebene Liste Aufschluß (vgl. Band 16,1 der Reihe B). Zur besseren Handhabung des Bandes wurde eine akkoladenbezogene Taktzählung ergänzt, die die abweichenden Taktzahlen von Faksimile- und Notenband berücksichtigt.
Berlin, im November 2002
Ulrich Krämer