Vorwort zu Band 23, 1 B

Der vorliegende Band enthält den Revisionsbericht, die Skizzen und die Entstehungs- und Werkgeschichte einschließlich der wichtigsten Dokumente zur Serenade op. 24. Die Berichte für die übrigen in Band 23 der Reihe A vorgelegten Werke erscheinen in Band 23, 2 der Reihe B. Der Grund für die Aufteilung auf zwei Teilbände liegt in der Notwendigkeit einer Darstellung der grundlegenden Neuorientierung von Schönbergs kompositorischem Schaffen zu Beginn der 1920er Jahre. Die mit diesem Vorgang zusammenhängende verschlungene Quellenlage des Werks spiegelt den prozessualen Charakter dieses Vorgangs wieder und machte eine akribische Rekonstruktion der einzelnen Phasen dieses Prozesses, der sich über einen Zeitraum von insgesamt fast drei Jahren erstreckte, erforderlich.

Die besonderen Entstehungsumstände hatten zur Folge, daß die einzelnen Quellentypen in einem äußerst variablen Verhältnis zur Chronologie der Werkgenese stehen, das jeweils von Satz zu Satz, teils sogar von Satzteil zu Satzteil neu definiert werden muß. So sind etwa vom später ausgeschiedenen Satzfragment (siehe Band 23 der Reihe A, S. 213–218) und von der fragmentarischen Frühfassung des ebenfalls zu einem späteren Zeitpunkt grundlegend überarbeiteten V. Satzes (siehe im vorliegenden Band, S. 342 ff.) Partiturreinschriften überliefert, während Erste Niederschriften zweier Sätze fehlen. An ihre Stelle sind innerhalb der Werkgenese eine Folge von Verlaufsentwürfen zum I. Satz bzw. das Particell des III. Satzes getreten, wobei letzteres zwar bereits im frühesten Stadium der Entstehung begonnen, aber erst in der allerletzten Phase vervollständigt wurde. Bezeichnend für die wechselhafte Genese der Serenade ist ferner, daß die Ersten Niederschriften der letzten vier Sätze erst nach den Partiturreinschriften des I. und ebenfalls zunächst unvollständigen II. Satzes entstanden sind. Die Einzelheiten der Entstehung wie auch der in Teilen ebenfalls rätselhaften Überlieferung der Quellen werden in dem entsprechenden Kapitel (siehe S. 349 ff.) diskutiert und durch eine Darstellung der Drucklegung und der wichtigsten Aufführungen sowie einen Abdruck der relevanten Dokumente komplettiert.

Die vielschichtige Entstehung der Serenade hatte auch unmittelbare Konsequenzen für die Textkritik: Da Schönberg sich der definitiven Werkgestalt sukzessive über einen für seine Verhältnisse langen Zeitraum annäherte, war für ihn die Herstellung der einzelnen Textstufen innerhalb der Quellenhierarchie ein zwar notwendiger, jedoch eher lästiger Schreibakt – eine Haltung, die sich in der Angabe „Abschrift“ bzw. „abgeschrieben am“ am Ende der Particell- wie auch der Partiturfassung mehrerer Sätze dokumentiert und die nicht ohne Konsequenzen für die aus dem doppelten Kopiervorgang hervorgegangene Textgestalt geblieben ist. Die aus ihr resultierenden teils gravierenden Fehler, die zum Großteil in den Erstdruck eingegangen sind, werden in den Textkritischen Anmerkungen ausführlich diskutiert.

Das zentrale Kapitel des Kritischen Berichts ist dem Abdruck und der Analyse des umfangreichen Skizzenmaterials vorbehalten. Die Skizzen bieten nicht nur wichtige Anhaltspunkte für die Werkgenese, sondern sie geben auch einen tiefen Einblick in die Anfänge von Schönbergs seriellem Denken. So enthält der vokale IV. Satz die früheste systematisch mittels Rotation durchgeführte Zwölftonreihe, die hier allerdings noch nicht autonom-musikalisch gesetzt ist, sondern auf die Struktur des zugrunde liegenden Petrarca-Sonetts Bezug nimmt. Aus den zugehörigen Skizzen geht hervor, daß das Rotationsprinzip auch die Grundlage der Akkordschichtungen der instrumentalen Einleitung bildet, was sich einer Analyse der endgültigen Fassung nicht ohne weiteres erschließt.

In den Variationen des III. Satzes sind bereits sämtliche Stimmen reihenmäßig determiniert, wobei neben der (untransponierten) Grundgestalt auch die drei übrigen Reihenformen Umkehrung, Krebs und Krebsumkehrung Verwendung finden. Allerdings liegt dem Thema keine Zwölf-, sondern eine Vierzehntonreihe zugrunde, die überdies nur elf der zwölf chromatischen Töne enthält. Aus den Skizzen zu diesem Satz geht u. a. hervor, wie akribisch Schönberg die Ableitung von selbständigen „Motiven“ mittels arithmetischer Modelle plante, worin bereits ein grundlegendes Prinzip der späteren Zwölftonwerke zu erkennen ist.

Die Skizzen zum V. Satz schließlich zeigen, daß der unmittelbare Durchbruch für die Neubearbeitung des bereits in einem frühen Stadium der Komposition abgebrochenen Satzes in der Verwendung der ersten sechs Töne des Themas als abstrakter „Tonvorrat“ liegt, dem im ländlerartigen Mittelteil die zum chromatischen Total fehlenden sechs Töne gegenübergestellt sind – ein Verfahren, bei dem es sich um eine Vorform des für die Zwölftonmethode so wesentlichen Prinzips der „hexachordal combinatoriality“ handelt.

Der besondere Dank des Herausgebers gilt allen Personen und Institutionen, die die Editionsarbeiten durch die freundliche Bereitstellung von Quellen sowie durch kollegialen Gedankenaustausch und kompetenten fachlichen Rat unterstützt haben: Therese Muxeneder und Eike Fess (Arnold Schönberg Center, Wien), Daniel Boomhower (Library of Congress, Washington, D.C.), Roland Schmidt-Hensel (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Berlin), Thomas Leibnitz (Österreichische Nationalbibliothek, Wien), Mikael Kristiansen (Edition Wilhelm Hansen, Kopenhagen), Claus Røllum-Larsen (Königliche Bibliothek, Kopenhagen), Tabea Lepuschitz (Antiquariat Löcker, Wien), Regina Busch (Alban Berg Gesamtausgabe, Wien), Signe Rotter-Broman (Universität der Künste, Berlin), dem Ensemble Wiener Collage und seinem Leiter René Staar sowie dem „Spiritus Rector“ der Gesamtausgabe Rudolf Stephan.

Berlin, im August 2014
Ulrich Krämer