Vorwort zu Band 23, 2 B

Der vorliegende Band enthält zunächst den Revisionsbericht, die Skizzen und die Entstehungs- und Werkgeschichte einschließlich der wichtigsten Dokumente zur Suite op. 29 und zur Phantasy op. 47 sowie zu den im Anhang zu Band 23 der Reihe A vorgelegten Kompositionen mit Ausnahme des Satzfragments aus der Serenade op. 24, das im ersten Teilband behandelt wird.
Die von Ulrich Krämer herausgegebene Suite für kleine Klarinette, Klarinette, Baßklarinette, Geige, Bratsche, Violoncell und Klavier op. 29 entstand zwischen Februar 1925 und Mai 1926, zu einer Zeit also, in der Schönberg die Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen bereits im Hinblick auf ihre Tauglichkeit für die Realisierung auch größerer musikalischer Formen erprobt hatte. Die Quellenlage zur Suite ist auf den ersten Blick günstig, da neben der Ersten Niederschrift und der Partiturreinschrift auch mehrere Handexemplare der Erstausgabe vorliegen. Problematisch ist jedoch, daß als Stichvorlage nicht das Partiturautograph, sondern eine Kopistenabschrift diente, die von Schönbergs Schwiegersohn Felix Greissle anhand der beiden autographen Quellen „eingerichtet“ wurde. Dabei gelangten zahlreiche Lesarten, die zumindest teilweise durch die Reinschrift überholt waren, in den Erstdruck, was wiederum zur Folge hatte, daß sämtliche abweichenden Lesarten des Erstdrucks kritisch zu hinterfragen waren. Die damit verbundenen Probleme werden im Kritischen Bericht eingehend diskutiert.
Das äußerst umfangreiche Skizzenmaterial, das auch Entwürfe zu nicht ausgeführten Sätzen umfaßt, gibt Einblick in Schönbergs Absicht, mit der Suite ein musikalisches Portrait seiner zweiten Frau Gertrud zu zeichnen, die er im Oktober 1924 geheiratet hatte und der das Werk auch gewidmet ist. Dieser Umstand erklärt sowohl den fast durchgängig leichten Tonfall desWerks wie auch die zahlreichen tonalen Anklänge. Interessant und für Schönbergs Arbeitsweise höchst aufschlußreich ist die Tatsache, daß es sich bei der zugrundeliegenden Reihe nicht etwa um eine präkonzeptionelle Setzung, sondern um einen Zufallsfund handelt. Dies lassen insbesondere die Skizzen zum Hauptthema des I. Satzes erkennen, dessen melodische Kontur erst mehrere Zwischenstufen durchlaufen mußte, bis es die endgültige Gestalt annahm. Erst mit dieser war dann auch die für das ganze Werk verbindliche Reihengestalt gefunden. Dies ist umso bemerkenswerter, als es sich bei der Reihe um eine Variante einer viel später von Schönberg als „Wunderreihe“ bezeichneten Zwölftonfolge handelt, deren besondere Eigenschaften als „all-combinatorial set“ er erst in den während bzw. im Anschluß an die Suite komponierten Werken erkannte und ausschöpfte.
Die Werkgeschichte zeichnet die von mehreren Unterbrechungen gekennzeichnete Werkgenese nach und geht auf die wichtigsten Aufführungen zu Schönbergs Lebzeiten ein. Schönberg selbst hat die Suite nach der höchst erfolgreichen Uraufführung in Paris im Dezember 1927 nicht mehr selbst dirigiert, obwohl er davon überzeugt war, „ein sehr gutes und ich glaube sogar ansprechendes Stück mit Melodien“ komponiert zu haben.
Die Phantasy op. 47, das Stück für Geige und Klavier, das Stelldichein, das Satzfragment für Geige und Klavier sowie die im vorliegenden Band abgedruckten Fragmente für Kammermusikbesetzungen mit Klavier bzw. Harmonium wurden von Martina Sichardt herausgegeben; die Edition wurde im Jahre 2007, in Teilen bereits Anfang der 1990er Jahre abgeschlossen.
Die dringende Notwendigkeit einer historisch-kritischen Neuedition der Phantasy trat im Zuge der Quellenkollation und -rezension deutlich zutage: Der Vergleich der vollständigen Erstniederschrift mit dem postum erschienenen Erstdruck und der Fahnenkorrektur legte offen, daß die zahlreichen Abweichungen des Erstdrucks von der Erstniederschrift nicht Resultat einer Überarbeitung Schönbergs, sondern vielmehr Folge der überaus fehlerhaften und mit Korrekturen sowie weiteren Eintragungen übersäten Korrekturfahnen sind; die Fahnen weisen darüber hinaus massive Eingriffe des Verlags-Editors auf, zudem entstanden Abweichungen zwischen Partitur und Violinstimme. Einen Eindruck dieser wirren und zugleich auf ihre Art bemerkenswerten Quelle – die korrigierten Fahnen enthalten zahlreiche Eintragungen von Schönberg, Stein, Hoffmann, Koldofsky, dem Verlagskorrektor und zu alledemnoch, in einem Exemplar, eine Reihenanalyse von Richard Hill – vermittelt eine Faksimileabbildung (s. Faks. 6). Zu den Fehlern des Erstdrucks trat dann in der Neuauflage des Erstdrucks aus dem Jahre 1978 – der heute gängigen Druckausgabe des Werks – noch die „Berichtigung“ der Reihenabweichungen: sämtliche dieser in allen Quellen übereinstimmend überlieferten Abweichungen – insgesamt 17 Töne – wurden gemäß der Reihe und somit gegen alle Quellen korrigiert. Auf einige dieser Reihenabweichungen war Schönberg vor und während der Drucklegung hingewiesen worden, ohne daß eine Korrektur erfolgt wäre; eine von ihnen bestätigte er explizit durch seine Unterschrift. Die GA korrigiert nur eine einzige Reihenabweichung, einen offensichtlichen Abschreibfehler, und gibt damit den Quellen Vorrang vor dem Systemdenken.
Die Konstitution des in Band 23 der Reihe A vorgelegten Notentextes der Phantasy erwies sich sodann als besondere Herausforderung: zwar sind die neben der Erstniederschrift wichtigsten Quellen – das Handexemplar und das Widmungsexemplar – vorderhand Lichtpauskopien der Erstniederschrift, doch die später vorgenommenen Korrekturen und Eintragungen in diesen beiden Quellen stimmen weder untereinander noch mit den späteren Eintragungen in der Erstniederschrift überein, ja oft genug widersprechen sie sich sogar. Daher mußte die chronologische Reihenfolge der Eintragungen aller drei Quellen in jedem einzelnen Fall rekonstruiert werden, um die „Fassung letzter Hand“ zu ermitteln; dabei ließen sich für die Erstniederschrift und das Widmungsexemplar zwei, für das Handexemplar sogar drei Korrekturstadien nachweisen.
Der Anhang des Notenbands enthält eine der frühesten Kompositionen Schönbergs, ein Stück für Geige und Klavier, entstanden vermutlich um das Jahr 1893. Des weiteren wurde der in Reinschrift vorliegende Teil (T. 1– 90) des Fragments Ein Stelldichein – eine Dehmel-Vertonung aus dem Jahre 1905 – vorgelegt; im B-Band folgt nun der Abdruck der noch unfertigen Erstniederschrift der Takte 91–135. In dem Satzfragment einer Sonate für Geige und Klavier aus den Jahren 1927/28 verbindet sich tonales und zwölftöniges Denken auf bemerkenswerte Weise.
Schließlich werden im vorliegenden Band die Fragmente für Kammermusik mit Klavier bzw. Harmonium vorgelegt. Die Entwürfe stammen aus den Jahren 1896 bis 1930; meist handelt es sich um kurze Satzanfänge. Einige von ihnen entstanden im Vorfeld der Entstehung der Zwölftonmethode und vermögen somit Aufschluß über den jeweiligen Stand des musikalischen Denkens zu geben.
Der besondere Dank der Herausgeber gilt allen Personen und Institutionen, die die Editionsarbeiten durch die freundliche Bereitstellung von Quellen sowie durch kollegialen Gedankenaustausch und kompetenten fachlichen Rat unterstützt haben: Therese Muxeneder und Eike Fess (Arnold Schönberg Center, Wien), dem Peters Verlag, New York sowie der Staatsbibliothek zu Berlin und dem Staatlichen
Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz; gedankt sei des weiteren Richard Hoffmann für seine telefonischen und brieflichen Auskünfte zu Entstehung und Drucklegung der Phantasy, den Studierenden der HMT Leipzig Felicitas Förster und Hannah Grieger für ihre umsichtige Mitarbeit bei der Überprüfung des Kritischen Berichts zur Phantasy sowie dem „Spiritus Rector“ der Gesamtausgabe Rudolf Stephan, der den Band in allen seinen Phasen mit kritischem und wohlwollendem Interesse begleitet hat. Dank gebührt schließlich auch Henry Trantel, der die Editionsarbeiten durch eine großzügige Spende im Namen von Timothy Bond (†) gefördert hat.

Berlin, im August 2016
Ulrich Krämer und Martina Sichardt