Einleitung zu Band 4 B

Mit der Vorlage des Bandes 4 der Reihe B wird die Edition des Komplexes „Klavierwerke“ innerhalb der Schönberg-Gesamtausgabe zu einem Ende gebracht. Nachdem der bereits 1968 erschienene Band 4 der Reihe A den Notentext sämtlicher vom Komponisten selbst veröffentlichter zweihändiger Opera und – ausdrücklich im Anhang – den der drei in der Schönberg-Biographik oft zitierten frühen Klavierstücke von 1894 gebracht hatte, nachdem dann die Bände 5 der Reihen A wie B die Werke für Klavier und für zwei Klaviere zu vier Händen samt Fragmenten erschlossen, enthält dieser Band neben dem Kritischen Bericht die Edition der Skizzen für die zweihändigen Klavierkompositionen sowie der Fragmente für Klavier zu zwei Händen.

Als undurchführbar erwies sich zu diesem Zeitpunkt der zunächst unternommene Versuch einer Dokumentation der Jugendwerke für Klavier zu zwei Händen (Lied ohne Worte, Ländler) als Anhang dieses Bandes. Zum einen gibt es Publikationsvorbehalte, vor allem jedoch traten Zuordnungsprobleme besonderer Art auf. So ist z. B. das von Dika Newlin schon 1968 aus der Schoenberg-Nachod-Collection der North Texas State University, Denton (USA), als Klavierstück teilweise publizierte1Lied ohne Worte inzwischen aufgrund eines anderen Autographs auch unter dem Titel Nocturne als Werk für kleines Orchester bekannt gemacht worden.2

Diese Komposition ist einstweilen durch drei Quellen repräsentiert:
A
: das Manuskript der Nachod-Collection, für Clavier zu zwei Händen bestimmt, Lied ohne Worte überschrieben;
B
: ein Manuskript aus dem Besitz von Mrs. Steiner (London), ebenfalls für Klavier zweihändig, betitelt Nocturne | für kleines Orchester mit dem Zusatz arrangiert für Pianoforte zu zwei Händen;
C
: ein Manuskript der Stimme einer 2. Violine, ebenfalls aus dem Besitz von Mrs. Steiner, betitelt Lied ohne Worte – Nocturne.
Für die Quellenfiliation sind nach dem gegenwärtigen Stand folgende Fakten wichtig : A trägt alle Zeichen einer Erstniederschrift; B stellt ebenso deutlich eine Reinschrift dar, die – was schon die Teilfaksimiles erkennen lassen – auf A basiert; der Nocturne | für kleines Orchester in B ist aufgeklebt (Mrs. Steiner vermochte leider nicht mitzuteilen, ob darunter ein alter Titel anderen Wortlauts, etwa »Lied ohne Worte«, steht). Bedenkt man auf diesem Hintergrund die Reihenfolge des Doppeltitels von C und bezieht man die Tatsache ein, daß Schönberg in einem Brief vom 16. 5. 1891 schreibt, er habe gestern . . . ein Lied ohne Worte componiert3, so kann mit einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden, der Komponist habe ein zunächst für Klavier gedachtes Stück später instrumentiert oder instrumentieren wollen. Freilich ist nicht mit Sicherheit auszuschließen, daß weitere Funde eine andere Interpretation nahelegen könnten.

Auch wenn man also nicht ohne weiteres der Auffassung von Ena Steiner beipflichten kann, das Stück sei originär für Orchester komponiert, erscheint es doch sinnvoll, auf eine Publikation innerhalb der Klavierwerke zu verzichten und für den gesamten Komplex der Jugendwerke eine zusammenhängende spätere Veröffentlichung im Annex (Serie VIII) der Gesamtausgabe vorzuschlagen. Ohnehin wird sich noch manches derzeit unbekannte Opus hinzugesellen.

Die Schönbergschen Klavierwerke sind zur Zeit sämtlich in zwar unterschiedlich zuverlässigen, aber generell brauchbaren praktischen Ausgaben zugänglich. So liegt die Bedeutung der Gesamtausgaben-Bände für diesen Bereich – über die selbstverständliche Präsentation eines gesicherten Notentextes hinaus – primär in der wissenschaftlichen Quellenerschließung und der Edition von Skizzen und Fragmenten.4

Die Skizzen zu den vollendeten Klavierkompositionen sind – nach heutigem Kenntnisstand – vollständig aufgenommen, ebenso die Fragmente, zu denen in Einzelfällen wiederum Skizzen treten. Bei den Fragmenten allerdings war zu bedenken, daß nicht jedes in klaviermäßiger Notation überlieferte Stück Musik eine für Klavier konzipierte Komposition zu repräsentieren braucht.5 Publiziert werden daher nur solche Fragmente, bei denen eine Bestimmung für Klavier solo sicher schien; auf den fraglichen Fall des Fragments Nr. 8 sei ausdrücklich verwiesen. Daß zudem Fragment 14 (Maegaard I, S. 137: „ein ganz merkwürdiges Stück“), im Manuskript ausdrücklich für Klavier bestimmt und durch den Datierungsvermerk als ernsthafter Kompositionsversuch ausgewiesen, manche Fragen aufwerfen könnte, sei ebenfalls vermerkt.

Insgesamt machte sich auch hier die Schwierigkeit bemerkbar, daß in einem für die Situation der Schönberg-Forschung relativ frühen Zeitpunkt trotz intensiver Bemühungen die Quellenlage für eine ganze Instrumentalgattung nicht vollständig überschaut werden kann. Diese Bemerkung trifft auch für einige der vollendeten Werke im Speziellen zu: sowohl bei den Klavierstücken op. 23 wie beim Einzelstück op. 33b blieben zentrale Quellen bislang unauffindbar, woraus sich teilweise große textkritische Probleme ergaben. Hinzu kommt, daß es sich gerade bei diesen Opera um Kompositionen von sehr differenzierter Faktur handelt, so daß auch interne Analogieschlüsse kaum möglich erscheinen, zumal beim Opus 23 für die Nummern 1–4 ein verbindliches, formulierbares kompositorisches System (etwa analog der harmonischen Tonalität) nicht vorausgesetzt werden kann.

Aber auch die textkritische Funktion der Schönbergschen Zwölftontechnik darf nicht überschätzt werden. Die Analyse der Zwölftonwerke – und zwar gerade auch die der frühen – zeigt, wie undogmatisch Schönberg mit den selbstgesetzten Regeln verfuhr. Es gibt eine Vielzahl von Fällen, wo eine Reihenabweichung keineswegs als „Unachtsamkeit" bezeichnet werden kann. Und Schönberg hat denn auch in den jeweiligen Handexemplaren der Drucke manche Reihen„fehler“, auf die er aufmerksam wurde bzw. gemacht wurde, ausdrücklich nicht verbessert. So wird im Handexemplar von Opus 23 zu Takt 15 von Nr. 5 zwar das Fehlen eines Reihentones vermerkt, dieser aber keineswegs nachgetragen, während im selben Exemplar andere Stellen (z. B. die Takte 86/87 des Walzers) korrigiert sind. So finden sich zu den Takten 22 und 35 von Opus 33a im Handexemplar des Separatdrucks Hinweise auf Reihenabweichungen, ohne daß Änderungen vorgenommen sind. (Die Folge der Belege ließe sich fortsetzen.) Eine generelle textkritische Richtschnur – etwa im Sinne der Herstellung eines reihentechnisch widerspruchsfreien Textes – ist also bei Schönberg durch die Zwölftontechnik keineswegs gegeben.6 Sicher muß eine genaue Reihenanalyse Bestandteil des textkritischen Verfahrens sein, jede fragliche Stelle ist dann jedoch in ihrem besonderen Quellen- wie Kompositionszusammenhang zu prüfen. Der Herausgeber ist in dieser Weise vorgegangen; er hat sich jedoch in keinem Fall, wo dem eindeutigen Votum der Quellen für die Reihenabweichung nur das Faktum einer reihentechnischen Irregularität entgegenstand, für eine Konjektur entscheiden können.

Wo es Lesartendivergenzen bei einem reihentechnisch strittigen Ton gibt, ist der Sachverhalt im Kritischen Bericht dargelegt; bei besonders schwierigen Fällen ist durch einen Vermerk unter dem Notentext des Bandes 4 der Reihe A auf eine solche Diskussion innerhalb der Textkritischen Anmerkungen hingewiesen. Wo allerdings weder Lesartenprobleme noch Äußerungen oder Hinweise Schönbergs (etwa in Handexemplaren) zu Reihenabweichungen vorliegen (z. B. beim 1. 16tel ges' in Takt 5 der Gavotte aus Opus 25), erschien es nicht opportun, den Kritischen Bericht – der kein Ort für die Erörterung kompositionstechnischer Probleme per se ist – mit Diskussionen zu belasten. Der Benutzer kann also davon ausgehen, daß undiskutierte Fälle von Reihenabweichungen durch einen eindeutigen Quellenbefund gedeckt und von Schönberg selbst nirgends in Frage gestellt sind.

Der Band mit den Klavierwerken sollte nach den ersten Planungen der Gesamtausgabe als einer der frühesten erscheinen. Er wurde – das braucht nicht verschwiegen zu werden – aufgrund der editorischen Probleme zu einer Hypothek. Als im Frühjahr 1968 die Schönberg-Ausgabe durch die verantwortliche Beteiligung von Musikwissenschaftlern auf eine neue Basis gestellt wurde7, war es geboten, die Edition der zweihändigen Klavierkompositionen endlich – und das bedeutete: kurzfristig – fertigzustellen. Der Unterzeichnete, der diese keineswegs unproblematische Aufgabe übernahm, ist den Editionsleitern wie dem Verlag für die verständnisvolle Unterstützung seiner Arbeit dankbar, dem Verlag insbesondere dafür, daß er dem von der Sache her seinerzeit unumgänglichen Neustich ganzer Passagen und Seiten zustimmte. Freilich hat sich die Forcierung der Arbeit auch im Druckfehlerregister niedergeschlagen.

Zur Textgestaltung

Für die Textgestaltung in Band 4 der Reihe A sind folgende Hinweise zu geben:

Für die Textgestaltung in Band 4 der Reihe B sind folgende Hinweise zu geben:

Der Herausgeber hat (mit Ausnahme derjenigen Quellen, die in Europa für ihn zugänglich waren) nach Mikrofilmen und Kopien der Manuskripte arbeiten müssen. Die unerläßliche Überprüfung fraglicher Stellen an den Handschriften des Schönberg-Archivs Los Angeles wie auch die Übermittlung von Daten für die Manuskript-Beschreibungen übernahm Richard Hoffmann in freundschaftlicher Weise. Ohne das Vertrauen in seine Zuverlässigkeit hätte diese Edition nicht erscheinen können; der Unterzeichnete ist ihm zu großem Dank verpflichtet. Zu danken hat er ebenfalls Denis Dille (Budapest), Arthur Mendel (Princeton) und O. W. Neighbour (London) für die Überlassung von Kopien und bereitwillig gegebene Informationen über einzelne Quellen. Mrs. Ena Steiner (London) und Vernon Martin (Denton, USA) beantworteten freundlicherweise Anfragen zu Jugendwerken, Reinhard Kapp (Berlin) half bei der Übertragung der Fragmente. Christian M. Schmidt und Tadeusz Okuljar von der Berliner Forschungsstelle der Schönberg-Gesamtausgabe gilt der Dank für Unterstützung mannigfacher Art, Karlheinz Kahl vom Verlag B. Schott’s Söhne (Mainz) für die Geduld bei der Drucklegung des Bandes 4 der Reihe B. Leonard Stein (Los Angeles) hatte bereits mit Eduard Steuermann für den Band 4 der Reihe A zusammengearbeitet, was dem Unterzeichneten bei der Niederschrift der editorischen Notiz für jenen Band nicht bekannt war; der Vermerk sei daher an dieser Stelle nachgetragen.

Reddehausen, 31. 12. 1974
Reinhold Brinkmann

 
  1. D. Newlin, „The Schoenberg-Nachod Collection: a preliminary report,“ in: The Musical Quarterly 54 (1968), S. 45, mit Teilfaksimile S. 44.Zurückspringen
  2. E. Steiner, „Suchen um des Suchens willen,“ in: Österreichische Musikzeitschrift 29 (1974), S. 281, mit Teilfaksimile; derselbe Artikel in englischer Sprache als „Schoenberg’s quest: newly discovered works from his early years,“ in: The Musical Quarterly 60 (1974), S. 401 ff., ohne daß auf die frühere Publikation von D. Newlin in derselben Zeitschrift Bezug genommen wäre.Zurückspringen
  3. Vgl. H. H. Stuckenschmidt, Schönberg, Zürich u. Freiburg i. Br. 1974, S. 24.Zurückspringen
  4. Die etwa 30–50 gegenüber den praktischen Ausgaben veränderten Lesarten von einigem Gewicht hätten natürlich auch in Listenform zu den derzeit greifbaren Ausgaben gegeben werden können. Allerdings wäre dazu der gleiche Arbeitsaufwand nötig gewesen, wie er in die Edition des Bandes 4 der Reihe A samt Kritischem Bericht investiert wurde. Wem jedoch wissenschaftliches Bemühen um einen auch in Details authentischen Text, wem Kenntnis von Skizzen und Fragmenten insgesamt sekundär oder gar überflüssig erscheinen, und wer zudem den traurigen Mut aufbringt, aus Interviews Sentenzen einseitig auszuwählen bzw. zusammenzustückeln, und wer solches Vorgehen für emanzipatorische Wissenschaft hält, der vermag allerdings einen Schönberg-Herausgeber zu konstruieren, der sein eigenes Tun zynisch für sinnlos zu erklären scheint. Vgl. W. M. Stroh, „Brauchen Sie Schönberg? Ein Jubiläumsreport,“ in: Herausforderung Schönberg, hg. v. U. Dibelius, München 1974; dazu: Sendung des WDR Köln.Zurückspringen
  5. Vgl. z. B. die von Rufer (WV, nach S. 96) publizierten Entwürfe zu einem Adagio. Ähnliche Fälle gibt es vor allem aus späterer Zeit.Zurückspringen
  6. Das gewissermaßen umgekehrte, von Schönberg selbst stammende und von seinen Schülern mehrfach überlieferte Diktum, stets dem Text der Erstniederschrift zu vertrauen, darf ebensowenig generalisiert werden. Zu oft belegen die Quellen eine Entwicklung vom Textstand der Erstniederschrift hinweg zu einer neuen Stufe der Komposition. Nicht durchweg bewahrheitet sich Schönbergs Glaube an die Dominanz des ersten Einfalls.Zurückspringen
  7. Vgl. R. Stephan, „Zur Gesamtausgabe der musikalischen Werke Arnold Schönbergs,“ in: Strecker-Festschrift, Mainz 1973, S. 82 ff.Zurückspringen