Vorwort zu Band 11, Teil 3 B

Der vorliegende Band vereint zwei auf den ersten Blick durchaus heterogene Werke: Die Kammersymphonie für 15 Solo-Instrumente op. 9 in der Bearbeitung für Orchester von 1914 und die Drei Stücke für Kammerensemble von 1910. Die bereits 1906 komponierte Kammersymphonie stellt einen Kulminationspunkt in Schönbergs künstlerischer Entwicklung dar, über dessen Tragweite sich zunächst wohl nicht einmal der Komponist selbst im Klaren war. Der Reichtum an Themen und Melodien, die sowohl entwickelnd variiert als auch auf immer neue Weise kontrapunktisch miteinander verknüpft werden, die bis an ihre Grenzen erweiterte Tonalität und die Konzentration des Ausdrucks und der Form waren nicht mehr zu überbieten, sondern nur noch zu durchbrechen, was Schönberg zwei Jahre nach Fertigstellung des Werks im programmatischen letzten Satz seines II. Streichquartetts op. 10 unternahm. Das bereits in ihrem Titel angedeutete Paradox der Kammersymphonie – die Verbindung einer innermusikalischen Verdichtung mit dem nach außen gerichteten Anspruch auf Breitenwirkung – hatte auch aufführungspraktische Konsequenzen, die sich unter anderem darin äußerten, daß von keinem anderen Schönbergschen Werk eine ähnlich große Zahl unterschiedlicher Fassungen überliefert ist, die je nach Vorgabe auf eine klangliche Substantialisierung des kammermusikalischen oder des symphonischen Aspekts zielen. Wie aus einer entsprechenden Bemerkung im Originaldruck von 1912 hervorgeht, hatte Schönberg von Anfang an mit einer „orchestermäßigen Anzahl“ der Streicher und – damit einhergehend – einer gelegentlichen Verdopplung der Bläser gerechnet, um eine Aufführung auch in größeren Sälen zu ermöglichen. Waren die damit verbundenen Eingriffe zunächst noch dem Belieben der Dirigenten überlassen, so hatte er bereits in der 1914 erschienenen „Verbesserten Ausgabe“ aufgrund zunehmender eigener Dirigiererfahrungen verfügt, daß „die Aufführung in großen Sälen […] nur nach einer eigens hiefür eingerichteten Partitur zulässig [ist], welche der Verlag über Wunsch zur Verfügung stellt.“ Die Einrichtung dieser Partitur hatte Schönberg in den Sommermonaten 1914 für eine geplante Aufführung unter eigener Leitung in St. Petersburg selbst vorgenommen. Die damit verbundenen Eingriffe beschränken sich im wesentlichen auf eine Ausführung der eigenen Anweisung von 1912, d. h. auf eine chorische Streicherbesetzung und eine Verstärkung der Bläser „an den Stellen, wo es nötig ist“. Veränderungen der ursprünglichen klanglichen Disposition in Gestalt von Verdopplungen oder Oktavierungen durch ein anderes (Blas-) Instrument sind selten und dienen ausschließlich der Verdeutlichung. Insofern nimmt die frühe Bearbeitung für Orchester eine Mittelstellung zwischen der Originalfassung und der späten Orchesterbearbeitung op. 9B von 1935 ein: Zu beiden bietet sie eine echte Alternative, da sie die klangliche Balance zwischen Bläsern und Streichern verbessert, dabei jedoch die dem Wesen der Kammermusik entgegengesetzte plakative Wirkung der in op. 9B um Trompeten und Posaunen erweiterten Blechbläser vermeidet.

Wie sehr das hybride Genre der „Kammersymphonie“ Schönberg auch noch in der Folgezeit beschäftigte, belegt nicht nur die unmittelbar nach op. 9 in solistischer Besetzung begonnene, jedoch erst drei Jahrzehnte später für Orchester umgearbeitete und zum Abschluß gebrachte II. Kammersymphonie op. 38, sondern auch das zweite in diesem Band vorgelegte Werk, die Drei Stücke für Kammerensemble von 1910. Diese äußerst kurze Komposition – das umfangreichste erste Stück umfaßt gerade zwölf Takte, das fragmentarische dritte wäre vermutlich nicht viel länger geworden – steht zusammen mit Werken wie dem Monodram Erwartung op. 17 (1909), den Sechs kleinen Klavierstücken op. 19 und dem Lied Herzgewächse op. 20 (beide 1911) am Ende jener Entwicklung, die zu einer nahezu vollständigen Auflösung jener in der ersten Kammersymphonie noch einmal auf die Spitze getriebenen traditionellen Kategorien der Musik und der damit verbundenen Konventionen geführt hatte. Wie die musikalische Geste im Bereich des Thematischen an die Stelle des Motivs tritt, so sorgt die zum Äußersten verfeinerte klangliche Differenzierung für Kontrast und Zusammenhang auf den verschiedenen Ebenen der Formbildung. Die konstruktive Behandlung der bis dahin eher untergeordneten Parameter von Instrumentalklang und Farbwirkung wird u. a. in der sukzessiven Erweiterung des Instrumentariums vom ersten bis zum dritten Stück und in der vom Einsatz der Orgel (bzw. des Harmoniums) und der Celesta ausgehenden Klangfläche im dritten Stück deutlich. Auch diese Miniaturen sind insofern „kammersymphonisch“, als sie aufgrund ihrer Besetzung für zwölf Solo-Instrumente eine hybride Stellung zwischen Orchester- und Kammermusik einnehmen. Dabei hat Schönberg die offenbar ursprünglich chorisch gedachte Streicherbesetzung erst nachträglich in eine solistische geändert und auf diese Weise quasi rückwirkend die Farbpalette des Orchesters für die Kammermusik nutzbar gemacht, so wie er umgekehrt durch die frühe Orchesterbearbeitung der Kammersymphonie die spezifisch kammermusikalischen Verfahrensweisen in die Orchestermusik hineingetragen hat.

Berlin, im Januar 2010
Ulrich Krämer