Carl Dahlhaus
Die Schönberg-Gesamtausgabe beginnt (1967)
Das Vorurteil, Gesamtausgaben seien Denkmäler, denen man mit verlegener Pietät begegnet – verlegen, weil sie zur Verbreitung der bekannten Werke überflüssig und zur Rettung der unbekannten fast immer untauglich erscheinen – ist ebenso irrig wie unausrottbar. Die Mahler-Edition erscheint in einem Augenblick, in dem die musikalische Öffentlichkeit anfängt, dem Komponisten die Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die sie ihm jahrzehntelang, wenigstens in Deutschland, versagte. Die Reger-Ausgabe ist weniger eine Demonstration fest etablierten Ruhmes als ein Versuch, eine Auseinandersetzung zu beleben, die abgebröckelt war, bevor sich ein eindeutiges Resultat abzeichnete. Und der Gedanke, sämtliche Werke Arnold Schönbergs zu edieren, trifft in eine Situation, in der immer noch ebensooft bestritten wie behauptet wird, daß die Neue Musik aufgehört habe, neu zu sein. Andererseits erinnert das Erscheinen einer Schönberg-Gesamtausgabe, herausgegeben von B. Schott's Söhne Mainz und Universal Edition Wien, jäh und beinahe schockhaft daran, daß uns von Schönbergs Geburtsjahr fast ein Jahrhundert trennt.
Der Ruhm, der Schönberg zugewachsen ist, als wäre er die Reversseite von Skandalen, änderte wenig daran, daß Schönbergs Werk, im Unterschied zu dem Anton Weberns, immer noch über weite Strecken eine Terra incognita ist. Und die Lieder gehören, außer den George-Gesängen opus 15, zu dem unbekannten Teil; die frühen wurden als spätromantisch, also veraltet, die späten als dodekaphon, also unsanglich, abgetan. Der Melodiker Schönberg blieb unentdeckt. Gerade darum war es ein glücklicher Gedanke, die Gesamtausgabe mit einem Band Lieder mit Klavierbegleitung zu eröffnen. Er enthält, ediert von Josef Rufer, die Werke 1, 2, 3, 6, 12, 14, 15 und 48, ferner zwei bisher unbekannte Lieder und schließlich die vier Volksliedbearbeitungen, die Schönberg 1929 auf Anregung der „Staatlichen Kommission für das Volksliederbuch der Jugend“ schrieb. Die vor Opus 1 entstandenen Lieder sollen, zusammen mit den Kanons, in einem zweiten band erscheinen. Das Lied „Deinem Blick mich zu bequemen“, das aus dem Jahre 1903 stammt, also nicht zu den Jugendwerken gezählt werden kann, hätte vielleicht, neben den beiden neu entdeckten Stücken, in den vorliegenden ersten Band aufgenommen werden sollen.
Das zweite bisher unbekannte Lied „Am Strande“ (nach einem Text von Rainer Maria Rilke) repräsentiert eine etwas spätere Entwicklungsstufe als „Gedenken“. Die Tonalität ist aufgehoben und durch ein Klangzentrum (c–e–f–h) ersetzt, auf das sich die übrigen Töne als Ergänzungs- oder Nebennoten beziehen. Die Harmonik des Anfangstaktes, der dem Lied die Signatur aufprägt, ist komplementär: Melodische Figuren der Unterstimme bilden mit dem Klangzentrum einen Zwölftonkomplex, in dem allerdings drei Töne wiederholt werden. Und als ob die Integration durch ein Klangzentrum als Widerpart zu der unruhigen, zerklüfteten Melodik noch nicht genügte, ist das Lied außerdem von einem dichten Netz motivischer Beziehungen übersponnen. Warum es nicht veröffentlicht, sondern zurückgehalten wurde, so daß es sich erst bei Schönbergs Tod im Nachlaß fand, ist rätselhaft. Denn musikalisch ist es, vielleicht abgesehen von dem allzu massiven Takt 14, makellos. Und auch Schönbergs Notiz „Ich habe es wegen des Textes nicht herausgegeben“ ist eine schwer verständliche Erklärung. Daß das Gedicht schlechter sei als manche anderen, die Schönberg vertonte, wird niemand behaupten wollen, mag man auch Rilkes Lyrik distanzierter gegenüberstehen, als es der Konsensus der Literarhistoriker, der mit dem des lesenden Publikums übereinstimmt, verlangt.
Die Ausgabe wird – abgesehen von Vorbemerkungen zur Editionstechnik – durch einen Essay des Herausgebers eingeleitet, der, gestützt auf Zitate, Schönbergs Liedästhetik darstellt und seine kompositorische Entwicklung, soweit sie von den Liedern ablesbar ist, in Umrissen charakterisiert. Skizzen oder frühere Fassungen zu einzelnen Werken sowie Dokumente zur Entstehungsgeschichte und schließlich der Revisionsbericht und der Nachweis der Herkunft der vertonten Texte sollen gesondert, in einem Ergänzungsband der sogenannten Reihe B, erscheinen. Das Urteil über den philologischen Charakter der Edition muß also aufgeschoben werden. (Die Abtrennung des kritischen Apparats vom Notenband soll vermutlich der Ausgabe auch bei den Verächtern der Philologie unter den praktischen Musikern Zugang verschaffen). Daß die Reihen A und B, der Notentext und der philologische Appendix, gleichzeitig herauskommen, scheint – ebenso wie bei anderen Gesamtausgaben – eines der Ideale zu sein, die man zunächst naiv für selbstverständlich hält, um dann einsehen zu müssen, daß sie utopisch sind.
Die Ausstattung der Edition ist großzügig, der Notenstich sorgfältig. (Daß in dem Lied „Am Strande“, dem zweiten der neu entdeckten Stücke, in Takt 22 in der Singstimme das Triolenzeichen fehlt, ist der einzige – und wenig erhebliche Irrtum, der dem Rezensenten auffiel). Die Zusätze des Herausgebers – klärende Akzidentien oder fehlende Artikulationszeichen, die nach dein Analogieprinzip zu ergänzen sind – heben sich vom Originaltext deutlich ab. Dem Prinzip, Parallelstellen einander anzugleichen, folgt Rufer keineswegs mechanisch; überhaupt ist er unverkennbar bemüht, die editorischen Eingriffe auf das geringste Maß zu beschränken.
Das erste der beiden unbekannten Lieder, „Gedenken“, fand sich 1962 im Nachlaß des Schönberg-Schülers Heinrich Jalowetz. Der Autor des Textes – die Anfangszeile lautet: „Es steht sein Bild noch immer da“ – ist im Manuskript nicht genannt, und ihn zu identifizieren, scheint bisher mißlungen zu sein. Das Lied dürfte, wie aus einem ungewöhnlichen Zug der Notation zu erschließen ist, um 1907 entstanden sein, also nicht zu den Jugendwerken gehören, zwischen die es, wie Rufer im Vorwort erwähnt, in Jalowetz’ Nachlaß geraten ist. Der letzte Akkord ist ein einfacher B-Dur-Dreiklang, so daß über die Tonart kein Zweifel besteht; sie ist aber erst ab Takt 12 vorgezeichnet, obwohl der zweite Teil sie keineswegs deutlicher ausprägt als der erste. Und Schönbergs Unschlüssigkeit, ob Vorzeichen dem musikalischen Sachverhalt noch angemessen sind oder nicht – der Wechsel der Auffassung im Verlauf einer Niederschrift, die dann zerrissen und nicht publiziert wurde –, verweisen das Lied in die Nähe von Opus 14, in die Zeit des Übergangs von der Tonalität zur Atonalität, um in groben Abbreviaturen zu reden. Tonale Akkordfolgen überwiegen noch, sind aber von Zusammenklängen durchsetzt, deren Deutung nach dem Buchstaben der Harmonielehre gewaltsam wäre oder sogar unmöglich ist. Gleich der Anfang, der über den Charakter des Liedes entscheidet, sprengt die Tonalität, wenn man nicht von Polytonalität sprechen will. Und zusammen mit der tonalen Harmonik sind auch die überlieferten Formen gefährdet. Herrschen in Schönbergs frühen Liedern, wenn auch manchmal verdeckt, Satztypen wie A1 A2 A3 (opus 3, Nr. 4 und 6), A1 A2B (opus 6, Nr. 3) und A1 B A2 (opus 1, Nr. 1 und 2; opus 2, Nr. 1, 2 und 4; opus 3, Nr. 2 und 3; opus 6, Nr. 2 und 8) noch vor, so ist in „Gedenken“ das dreiteilige Schema zu einer schwachen Andeutung verblaßt. Den musikalischen Zusammenhang stiftet die entwickelnde Variation eines Themas von zwei Takten Länge, das modifiziert, zerlegt und gleichsam von immer wieder anderen Seiten gezeigt wird. Der Zerfall der Tonalität bedeutete eine Emanzipation nicht nur der Dissonanz, sondern auch der thematisch-motivischen Arbeit.