Vorwort zu Band 16, Teil 3 B

Der vorliegende Band, der eine umfassende Darstellung der Entstehungs-, Drucklegungs-, Aufführungs- und Wirkungsgeschichte sowie alle relevanten Dokumente zu Schönbergs in Band 16,1 der Reihe A vorgelegtem frühem Meisterwerk enthält, bringt den insgesamt fünf Bände der Gesamtausgabe umfassenden Gurre-Lieder-Komplex zum Abschluß. Die Entstehung des Werks (vgl. Kap. I) zog sich vom Beginn der Komposition im März 1900 bis zum Abschluß der Instrumentation Anfang November 1911 über den für Schönbergs Verhältnisse außergewöhnlich langen Zeitraum von fast 12 Jahren hin. Dies lag jedoch weniger an der Komposition, die kaum länger als ein Jahr in Anspruch nahm, als vielmehr an der Instrumentation, in deren Verlauf Schönberg die Partitur einerseits aufgrund der unüberwindbar scheinenden Schwierigkeiten, die einer Aufführung entgegenstanden, andererseits aufgrund der grundlegenden Neuausrichtung seiner Tonsprache zwischen 1904 und 1909 beinahe unvollendet hinterlassen hätte. Ihre Fertigstellung verdankt sich nicht zuletzt dem glücklichen Umstand der erfolgreichen Aufführung des I. Teils mit Klavierbegleitung am 14. Januar 1910. Mit dem Erscheinen des Erstdrucks im November 1912 war die Arbeit jedoch noch immer nicht vollständig abgeschlossen, da Schönberg die Partitur im Zusammenhang mit den ersten Aufführungen mehreren teils weitreichenden Revisionen unterzog.

Im Gegensatz zur Instrumentation verlief die Niederschrift des Particells relativ mühelos, obwohl auch hier mehrere, vor allem dem Broterwerb geschuldete Unterbrechungen eine kontinuierliche Ausarbeitung behinderten. Anhand einer detaillierten Untersuchung der Skizzen und des Particells, die außer den spärlichen Datierungen sämtliche philologisch auswertbaren Informationen wie etwa die verwendeten Papiersorten, die Anordnung von Skizzen auf den einzelnen Blättern, charakteristische Änderungen in Schönbergs Handschrift oder auch das Geflecht motivischer Beziehungen einbezieht, läßt sich eine Chronologie der Werkgenese rekonstruieren, die jedoch aufgrund des relativ kurzen Entstehungszeitraums von nur einem Jahr sowie aufgrund fehlender Datierungen im III. Teil des Werks lückenhaft bleiben muß.

Für die Darstellung der Drucklegungsgeschichte der Gurre-Lieder (vgl. Kap. II) wurde vor allem der bislang unpublizierte Briefwechsel mit Schönbergs wichtigstem Verlag, der Wiener Universal Edition herangezogen. Zu Lebzeiten des Komponisten erschienen der Erstdruck von 1912 (als Faksimile des Autographs; vgl. Band 16, 2 der Reihe A), der von Alban Berg teilweise noch während des Unterrichts bei Schönberg auf der Grundlage von dessen eigenem, heute verschollenem Arrangement des I. Teils eingerichtete Klavierauszug von 1913, die aus diesem herausgezogenen Einzelausgaben von 1914, deren Schlußtakte nicht – wie gemeinhin angenommen – von Berg, sondern von Schönberg selbst stammen, und der revidierte und gestochene Neudruck von 1920.

Die Rezeptions- und Aufführungsgeschichte der Gurre-Lieder (vgl. Kap. III) stand von Anfang an im Zeichen eines Dilemmas, in dem sich Schönberg bereits zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Partitur befand: Einerseits wollte er nicht an einem Werk gemessen werden, dessen ästhetische und kompositionstechnische Voraussetzungen er längst hinter sich gelassen hatte, und andererseits ging er davon aus, daß der sich abzeichnende große Erfolg der Gurre-Lieder zu einem größeren Verständnis seiner späteren, vom Publikum abgelehnten Kompositionen beitragen würde. Vor allem aber erhoffte er sich von dem Werk, das er zeitweise in direkter Konkurrenz zu der von Franz Schreker geleiteten Wiener Uraufführung unter eigener Leitung in Berlin aufzuführen gedachte, seinen Durchbruch als Dirigent und den damit verbundenen materiellen Erfolg. Aus diesem Grund hatte er sich von der Universal Edition das Erstaufführungsrecht für die Vereinigten Staaten von Amerika zusichern lassen – ein Plan, der jedoch an seinen Honorarforderungen scheiterte, so daß schließlich Leopold Stokowski 1932 die amerikanische Erstaufführung leitete. Von diesem Vertrauensbruch sollte sich das Verhältnis zwischen Schönberg und seinem Verleger Hertzka bis zu dessen Tod nicht mehr erholen. Wie sehr die Gurre-Lieder Schönberg noch im fortgeschrittenen Alter am Herzen lagen, geht schließlich aus seiner großen Anteilnahme an der Aufführung in Cincinnati in seinem letzten Lebensjahr 1951 hervor.

Die Darstellung der Entstehungs-, Drucklegungs- und Aufführungsgeschichte der Gurre-Lieder wird durch umfangreiches, knapp 1000 Einzelnachweise umfassendes und zum großen Teil unveröffentlichtes dokumentarisches Material ergänzt, dessen Abdruck im wesentlichen der Einteilung der ersten drei Kapitel folgt (vgl. Kap. IV).

Der Herausgeber ist zahlreichen Personen und Institutionen für ihre Hilfe bei der Vorbereitung des Bandes zu Dank verpflichtet. Dieser gilt vor allem den Archivaren des Arnold Schönberg Centers in Wien Therese Muxeneder und Eike Fess, die sämtliche Anfragen mit Geduld und Sachverstand beantwortet haben. Besonderer Dank gebührt außerdem Wayne D. Shirley (Library of Congress, Washington, D.C.), Thomas Leibnitz (Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien), Franz Werner Schembera-Teufenbach (Historisches Archiv der Universal Edition,Wien), Thomas Aigner (Musiksammlung der Wienbibliothek im Rathaus, vormals Wiener Stadt- und Landesbibliothek) und Ilse M. Kosz (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde, Wien).

Berlin, im Oktober 2008
Ulrich Krämer