Vorwort zu Band 5 A

Der vorliegende Band enthält im Hauptteil vier vollständige Kompositionen, im Anhang die Fragmente dreier unvollendeter Kompositionen.

Die vier Kompositionen des Hauptteils sind von durchaus unterschiedlichem Anspruch und Gewicht. Der sich daraus ergebenden Rangfolge entspricht ihre Anordnung.

Die Variationen über ein Rezitativ für Orgel op. 40, eines der bedeutendsten Zeugnisse der späten Tonalität bei Schönberg, sind ein Werk höchsten Anspruchs. Als einzige der sieben Kompositionen, die in diesem Band vorgelegt werden, sind sie bereits im Druck erschienen. Die Variationen entstanden 1941 auf Anregung des H. W. Gray Verlages, der von Schönberg eine Komposition für die Contemporary Organ Series erbeten hatte. Um dieser Bitte zu entsprechen, begann Schönberg zunächst mit der Arbeit an der Sonate für Orgel, die er dann aber abbrach und sich den Variationen über ein Rezitativ zuwandte. Die gedruckte Ausgabe, die 1947 bei H. W. Gray von Carl Weinrich herausgegeben wurde, ist eine Einrichtung für praktische Zwecke. Schönberg, dessen Billigung diese „praktische Ausgabe“ zunächst gefunden hatte, hat sich zwei Jahre nach ihrem Erscheinen entschieden gegen die Registrierungsanweisungen Weinrichs, allerdings nur gegen diese, ausgesprochen.

Eine wesentliche Änderung von Weinrichs Ausgabe im Verhältnis zu Schönbergs Vorlage betrifft das Prinzip der Notation. Weinrich hat die Variationen für die allgemein übliche Orgelnotation eingerichtet. Zu dieser verhält sich Schönbergs Notation der Orgelstücke ähnlich wie seine Notation der „transponierenden“ Instrumente zur allgemein üblichen. Sie ist eine Resultatnotation: die Noten geben nicht die Tasten an, die gespielt werden sollen, sondern die Töne, die erklingen sollen; folglich wird der Tastenumfang des Manuals bzw. Pedals, der gemessen an der üblichen Orgelnotation vielfach überschritten wird, für die Notation irrelevant. Schönberg hat das in einem Brief vom 16. Mai 1944 an Carl Weinrich erläutert: I write always the pitch which I want to hear: never transpositions are used, also not in the upper or lower octave; not in the manuals, nor in the pedal.

Als Werk mit einem hohen Maß von Eigenständigkeit hat auch die Fassung der Zweiten Kammersymphonie op. 38B zu gelten. Dafür sprechen zunächst einige äußere Merkmale. Schönberg hat die Reinschrift auf Lichtpauspapier geschrieben, das die Möglichkeit zur Verbreitung bietet, er hat diese Reinschrift mit einem Copyright-Vermerk versehen und – was wohl am meisten auf den Anspruch hindeutet, den Schönberg für diese Fassung erhob – er hat ihr eine Opuszahl gegeben. Als eigenständige Fassung erweist sich op. 38B nun auch im innermusikalischen Bereich. Nicht nur sind dynamische Bezeichnungen, Bögen und Artikulationszeichen überaus häufig gegenüber der Orchesterfassung geändert – dies allein könnte noch aus der Adaption auf die andersgearteten Instrumente herrühren und wäre auch in einem Klavierauszug denkbar. Schwerwiegender schon ist die allerdings zahlenmäßig geringe Änderung der Hauptstimmenzeichen. Was aber die Klavierfassung am meisten als eigenständig auszeichnet, sind die häufigen und zum Teil eingreifenden Veränderungen von Tonhöhen (vgl. dazu die Liste im Band 5 der Reihe B). Dies ist von um so größerem Gewicht, als op. 38B die letzte autographe Quelle der Zweiten Kammersymphonie ist. Darüber geben die Schlußvermerke Auskunft: Während die Particellreinschrift der Orchesterfassung, auf die sich auch der Partiturdruck bei G. Schirmer stützt, am Ende des I. Satzes als Datierung August 15, 1939 und am Ende des II. Satzes October 21, 1939 angibt, ist die Klavierfassung mit den Schlußvermerken XII, 25,1941 im I. Satz und finished Brentwood Park January 12, 1942 Arnold Schoenberg im II. Satz versehen.

Alle Züge eines Frühwerkes tragen die Sechs Stücke für Klavier zu vier Händen. Wie der Widmungsvermerk Fräulein Bella Cohn zum 14. Februar 1896 vermuten läßt, hat der einundzwanzigjährige Schönberg die Stücke als Gelegenheitskomposition geschrieben.

Der Klavierauszug zu vier Händen der Ersten Kammersymphonie op. 9, der früh schon entstand (die 1912 bei der Universal Edition erschienene Ausgabe der Kammersymphonie liegt ihm nicht zugrunde), stellt keine eigenständige Fassung dar. Schönberg hat ihn, einem Usus der Zeit folgend, allein mit der Intention hergestellt, dem Werk in dieser

reduzierten Fassung größere Verbreitung zu verschaffen. Daß aus ihm häufig gespielt worden ist, zeigt der Zustand des Manuskripts: überaus zahlreich sind spätere Korrekturen und Eintragungen, die rechte untere Ecke eines jeden Blattes ist vom Umblättern dunkel verfärbt. Daß Schönberg diesen seinen eigenen Klavierauszug nicht sehr hoch eingeschätzt hat, geht zum einen aus der eigenhändigen undatierten Randbemerkung auf der ersten Seite (vgl. Faksimile 3) hervor: Das ist alles viel zu überladen!!! Immer nur halb so viel Stimmen! Zum anderen spricht dafür die Tatsache, daß mit Billigung Schönbergs und wohl sogar unter seiner Aufsicht der vierhändige Klavierauszug von Felix Greissle entstand, der 1924 bei der Universal Edition erschien. Ein recht ungewöhnliches Merkmal haben beide Klavierauszüge gemeinsam: die spieltechnische Anweisung, wo auf den Tasten die Spieler bei Überkreuzungen zu spielen haben. Greissle verwendet dafür besondere Zeichen, Schönberg schreibt „hoch“ und „tief“. In der Formulierung des Auszugs von Greissle ist bei „hoch“ ganz am hinteren Ende der Tasten und über der Hand des Partners, bei „tief“ ganz am vorderen Ende der Tasten und unter der Hand des Partners zu spielen, so daß die Klaviatur gleichsam in zwei Manuale zerlegt wird.

Daß in diesen Band der Reihe A auch Fragmente aufgenommen wurden, verlangt eine Begründung. Grundsätzlich muß die Behauptung verneint werden, daß die Tatsache des Nichtvollendetseins eine prinzipielle Wertminderung impliziert – zumal wenn man die hohe Bedeutung von Fragmenten Schönbergs in Betracht zieht. Dies vorausgesetzt, ist die Frage nach dem Gewicht von Fragmenten auf die nach ihrer Quantität und dem Grad des Definitiven im Produktionsprozeß zu reduzieren. Die vier Fragmente, die hier vorgelegt werden, sind als definitive Reinschriften überliefert und so lang, daß in ihnen – sie alle sind zwölftönig – die kompositorische Konzeption deutlich werden kann. Das gewichtigste unter ihnen ist zweifelsfrei das Molto moderato der Orgelsonate; es ist bereits mehrfach öffentlich gespielt worden.

Der Herausgeber ist Herrn O. W. Neighbour (London) zu großem Dank verpflichtet, der als Besitzer des Autographs der Sechs Stücke für Klavier zu vier Händen nicht nur Zugang zu dieser Quelle ermöglicht, sondern auch bereitwillig Einzelfragen beantwortet hat. Ebenso zuvorkommend hat Herr Carl Weinrich (Princeton) über die Entstehung seiner Edition der Orgelvariationen Auskunft gegeben und Einblick in seine Korrespondenz mit Schönberg gewährt. Gedankt sei auch Herrn Prof Dr. Rudolf Stephan (Berlin) und Herrn Prof. Dr. Reinhold Brinkrnann (Marburg), die die Arbeit an diesem Band in mannigfacher Weise gefördert haben, und den Mitarbeitern der Berliner Forschungsstelle, besonders Herrn Tadeusz Okuljar.

Christian Martin Schmidt