Vorbemerkung zu Band 29 A

Das Oratorium Die Jakobsleiter, nach Intention und Gehalt eines der Hauptwerke Schönbergs, ist unvollendet geblieben. Der Text, den der Komponist selbst gefertigt hat, entstand in den Jahren 1915 bis 1917 (Schlußdatum: 26. Mai 1917), die Komposition der Takte 1 bis 601 von Anfang Juni bis zum 19. September 1917, dem Tag der Einberufung Schönbergs zum Militär. Nach seiner Entlassung im Dezember desselben Jahres hat Schönberg sogleich die Arbeit an dem Oratorium wieder aufgenommen und dann, bis 1922, die Takte 602–701 komponiert, dazu auch noch einzelne Abschnitte aus dem folgenden Textteil. Über Skizzen ist er hier nicht hinausgekommen.
Das Werk, soweit es von Schönberg komponiert wurde, liegt in Skizzen (innerhalb zweier Skizzenbücher) und in einem Particell (Takt 1–685) vor. Der Komponist hat, als er sich 1944 zu Umarbeitung und Vollendung entschloß, begonnen, ein neues Particell zu schreiben. Er gelangte aber nicht über die ersten 44 Takte hinaus. Bei dieser Gelegenheit hat er auch in vergrößerte Photographien des Originalparticells (Takt 58–104) Eintragungen gemacht.
Die Partitur, wie sie jetzt für Aufführungszwecke vorliegt, wurde von Schönbergs Schüler Winfried Zillig (1905–1963) aufgrund der ihm zugänglich gemachten handschriftlichen Quellen ausgeschrieben. Es sind viel und oft sehr weitgehende Hinweise auf meine orchestralen Absichten in den Manuskripten zu finden schrieb Schönberg am 27. Juni 1951 an den Dirigenten Karl Rankl, den er um die Fertigung der Partitur gebeten hatte. Diese Hinweise, die die Arbeit überhaupt erst ermöglicht haben, hat Zillig in vollem Umfang genutzt.1

Die vorliegende Partitur wird stets ein Zeugnis von Zilligs treuer Ergebenheit und seines hervorragenden musikalischen Könnens sein. Wenn die Partitur hier nun in revidierter Gestalt erscheint – die Partitur wurde noch einmal mit den Quellen verglichen –‚ so bedeutet dies nichts anderes, als daß Versehen gebessert und einige Anmerkungen hinzugefügt wurden. Die Versehen einzeln aufzuführen erschiene unangemessen. Hinzugefügt wurden die in den Quellen vorhandenen Haupt- und Nebenstimmenbezeichnungen (H, N, ¬), die doch, wenn auch weder durchgängig noch konsequent verwendet, bedeutsam genug erscheinen. Alle Bemerkungen und Angaben in Klammern bezeichnen Zutaten zu Schönbergs Notentext, ohne daß jedoch – das liegt in der Natur der Sache – alle Zutaten auf diese Weise hätten markiert werden können. Die Vortragsbezeichnungen hat Schönberg teils deutsch, teils italienisch geschrieben; Abkürzungen hat er nicht konsequent angewandt. Zillig hat zahlreiche deutsche durch italienische Anweisungen ersetzt, ohne konsequent zu sein. Auch hat er – Schönbergs späterer Notationsweise folgend – allen Noten (mit Ausnahme der direkt wiederholten) Vorzeichen (#, b, Auflöser) gegeben. Eine Entscheidung Zilligs wurde vom Herausgeber revidiert: Schönberg notiert im Particell die Sprechstimme nur bis einschließlich Takt 51 mit den Zeichen [NB: Viertelnote mit x-förmigem Notenkopf] und [NB: Halbe Note mit rhombischem Notenkopf], ab Takt 55 jedoch konsequent [NB: Viertelnote mit durchkreuztem Notenhals] und [NB: Halbe Note mit durchkreuztem Notenhals]. Diese Notation, die Schönberg auch in den Drucken seiner Werke Die Glückliche Hand op. 18 und Pierrot lunaire op. 21 angewendet hat, erscheint hier als die angemessenere. (Zillig kam zu einer Bevorzugung der anderen Notation durch seine Arbeit an der Oper Moses und Aron.) Probleme bieten die Fernmusiken. Im Particell findet sich eine (wohl aus dem Jahre 1917 oder 1918 stammende) Anweisung. Sie ist hier, wegen ihrer Wichtigkeit, vollständig wiederzugeben:

In diesem Zwischenspiel sind einige Fernmusiken (Orch., Chöre etc.) verwendet (H1, H2, F1, F2… CH1, CH2 etc.), die teils bloß hoch, teils fern aufzustellen sind.

1. Der Dirigent hat überall, wo Fernmusiken vorkommen, diese zu begleiten, sich ihnen anzupassen, sich also ohne Rücksicht auf Haupt- und Nebenstimmen (aus rein akustischen Gründen) in einem so elastischen Tempo zu befinden, daß er beste Übereinstimmung herbeiführt.
2. In den Fern-Orchestern wird es zulässig sein, langsamer bewegte Harmonien und event. auch einzelne Nebenstimmen und dgl. bloß durch Fernwerke von Orgeln oder Harmonien (Spieltisch im Orch.) oder durch fern aufgestellte Harmonien zu ersetzen. Die Hauptstimmen jedoch sollten immer die in der Partitur bezeichneten sein.
3. Die Fernorchester müssen nah oder mäßig weit stehen: der Eindruck der Ferne genügt.
H1 z. B. 1–2 m über dem höchsten Punkt des Orchesters, am besten dem Dirigenten gegenüber.
H2 ist weniger hoch als H1 und näher (also bedeutend näher als H1), am besten z. B. rechts vom Dirigenten.
F2 ist entfernter als F1.

Die Fernchöre (CH1 etc.) hat Schönberg in dem ausgeführten Teil noch gar nicht verwendet. Über eine angemessene Realisation der Fernmusiken hat Schönberg immer wieder nachgedacht. Einmal hat er sogar ein eigenartiges Röhrensystem ersonnen. Gegen Ende seines Lebens, als er sich wieder mit dem Werk beschäftigte, hat er folgende Aufführungsmodalität erwogen:

Alle Fern oder Höhen Orchester oder Chöre (fern, hoch, tief) können in akustisch abgesonderten Räumen „gespielt“ und mittels Mikrophone an entlegenen Stellen hörbar werden. Die dort dirigierenden Kapellmeister hören das Hauptorchester durch Mikrophone.
Der General Dirigent begleitet, was er am Podium hört (ohne Mikrophone).
Gleichzeitig spielende Fernmusiken werden von den Dirigenten durch Mikrophone gehört.

Schließlich muß noch besonders darauf hingewiesen werden, daß die Sprechstimme stets die angegebene Tonhöhe genau zu intonieren hat. Einige Bemerkungen zur Partitur erscheinen jedoch auch an dieser Stelle notwendig. Schönberg hatte das Werk zunächst für größtes Orchester disponiert, ist jedoch später von dieser Riesenbesetzung abgerückt. Der Partiturentwurf von 1944 schließlich rechnet mit normalem großem Orchester. Schönbergs Instrumentationsidee zur Zeit der Komposition des Oratoriums ging dahin, homogene, d. h. in der Klangfarbe einheitliche vieltönige Klänge und Klangbänder zu realisieren. Diese Idee hat Schönberg zwar nicht aufgegeben, aber sie erschien ihm später nicht mehr so bedeutungsvoll. Zillig hatte dennoch ganz recht, als er in Takt 520 die vorgesehenen 4 Baßklarinetten durch 4 Fagotte (drei Fagotte und ein Kontrafagott) ersetzte, weil so die Homogenität der Klangfarbe, wenn es auch eine andere war, erhalten blieb. Vielleicht hätte bei der Erstellung der Partitur eine Zweite Baßklarinette berücksichtigt werden sollen – nicht nur wegen der Stelle T. 553 –, vielleicht auch eine Mandoline (vgl. T. 424, 621). Es liegt in der Natur der Sache, daß sich bei näherer Befassung mit dem Werk immer wieder Stellen finden werden, die auch auf andere Weise hätten in Partitur gesetzt werden können, auch solche, wo der Eindruck des Unvollständigen hervortritt. So hat Zillig ab Takt 110ff. die instrumentale Stütze hinzugefügt – Schönberg schreibt Takt 115 im Particell Orchester noch ausführen – während er in den Takten 142–157 auf eine Ergänzung verzichtet hat. Das Werk ist eben – und darüber kann und will die Einrichtung Zilligs nicht hinwegtäuschen – ein Torso, und den Charakter eines solchen zeigt es nicht nur darin, daß die Dichtung nur zur Hälfte komponiert wurde. Und doch konnte Zillig mit vollem Recht schreiben: Seltsamerweise ist gerade der Schluß des Jakobsleiterfragments einer der eindrucksvollsten Schlüsse, die es überhaupt in der abendländischen Musik gibt. Schönbergs Erfindung der im Raum schwebenden Klänge führt tatsächlich in neue Bezirke. Die Verzauberung ist vollständig, trotz des Fragmentarischen, ja es drängt sich der Gedanke auf, ob diese seltsame und einmalige Verzauberung nicht gerade im Unvollendeten eines Werks seine Wurzel hat, das, seiner geistigen Fragestellung nach angesichts der Beschränkung des Menschen im Ewigen gegenüber doch immer nur eine unvollkommene Antwort geben könnte.2

Rudolf Stephan

Berlin, März 1976/Mai 1977

Nachschrift (1985)

Die vor einem Jahrzehnt durchgeführte Revision der Jakobsleiter-Partitur von W. Zillig erschien erstmalig (mit gekürztem Vorwort) zu Beginn des Jahres 1981 in Wien als Studienpartitur (U.E. Nr. 13356). Sie wurde im Sommer 1984, auf Grund der Erfahrungen, die mehrere Aufführungen vermittelten, neuerlich gründlich überprüft. Dabei wurden vornehmlich weitere dynamische Zeichen und Vortragsanweisungen ergänzt. (Ein bisher übersehener schwerer Fehler im Notentext konnte korrigiert werden: in Takt 396 waren alle Flötenstimmen eine Terz zu tief notiert, weil eine Hilfslinie zu wenig notiert war.)
Da zu dem vorliegenden ersten Supplement der Gesamtausgabe kein Band in der Serie B veröffentlicht werden wird, erschien es geboten, einige notwendige Hinweise an dieser Stelle anzubringen. Das originale Particell wird mit den dazugehörigen Dokumenten zu gegebener Zeit in beiden Serien als Band 17 dieser Ausgabe vorgelegt werden. Auf sie sei schon jetzt besonders verwiesen.

Berlin, im August 1985 R. St.

 
  1. Hier ist auf zwei Aufsätze von Winfried Zillig hinzuweisen: Arnold Schönbergs „Jakobsleiter“, in: Österreichische Musikzeitschrift, Jg. 16, 1961, S. 193–204 und Bericht über Arnold Schönbergs „Jakobsleiter“, in: Neue Musik in der Bundesrepublik Deutschland. Dokumentation 1960/61, Kassel 1961, S. 29–40.Zurückspringen
  2. Aus: Bayerischer Rundfunk. Konzerte mit Neuer Musik, 14. Jg., 53. Folge, 1963, S. 20. Zurückspringen