Rudolf Stephan

Über den gegenwärtigen Stand der Schönberg-Gesamtausgabe (1971)

Soeben ist im Rahmen der Gesamtausgabe sämtlicher musikalischer Werke von Arnold Schönberg der 7. Band der Reihe A, die Partitur der einaktigen Oper „Von heute auf morgen“ op. 32, erschienen. Mit diesem Band tritt die Ausgabe, auch äußerlich sichtbar durch das Fehlen der die früher erschienenen Bände einleitenden Texte, in ein neues Stadium. Jahrelange Bemühungen um die Sicherung des wissenschaftlichen Charakters der Ausgabe, die eine kritische im unverwässerten Sinne des Wortes sein soll, dürften zu einem vorläufigen Abschluß gekommen sein. Die Arbeit an der Herausgabe dieser Oper, die sich tatsächlich über Jahre hingezogen hat, wird in ihrem vollen Umfang allerdings erst dann zu erkennen sein, wenn die zu der Partitur gehörigen Ergänzungsbände, die drei Teilbände der Serie B, erschienen sein werden. Der erste (B 7, 1) wird den authentischen, von Schönberg selbst verfertigten Klavierauszug, der mit dem bisher publizierten nicht ganz identisch ist, enthalten, der zweite (B 7, 2) alle musikalischen Skizzen einschließlich der Reihentabellen sowie das Libretto, an welchem ja Schönberg mindestens entscheidend mitgearbeitet hat, der dritte (B 7, 3) neben der Quellenbeschreibung den Revisionsbericht zu Partitur und Klavierauszug sowie eine Entstehungsgeschichte der Oper. Die wissenschaftliche Arbeit an den drei Bänden der Serie B ist abgeschlossen. Sie sind in Herstellung, und es ist zu hoffen, daß sie innerhalb eines Jahres erscheinen werden.

Allein die Tatsache, daß der Oper „Von heute auf morgen“ vier Bände (die als zwei zählen) gewidmet sind, die Arbeit an diesen Bänden sich über Jahre hingezogen hat, daß überdies mehrere Herausgeber für die einzelnen Teilbände verantwortlich zeichnen, läßt erkennen, um was für ein Projekt es sich bei dieser Gesamtausgabe handelt, welche Masse von Problemen zu bewältigen ist. Die Ausgabe bietet eben nicht nur den Notentext der vollendeten Werke, sondern auch alle unvollendeten, und von den vollendeten alle authentischen Fassungen sowie die Skizzen. Noch hat kaum je eine musikalische Gesamtausgabe sich eine solche Arbeit vorgenommen. Man muß sich daran erinnern, daß noch nicht einmal die Skizzen Beethovens, deren Bedeutung doch seit Nottebohm allbekannt ist, bisher vollständig publiziert sind. Und einzig Beethoven ist, was die Masse des noch vorhandenen Materials betrifft, mit Schönberg zu vergleichen.

Der Partiturband der Oper „Von heute auf morgen“ ist die erste Frucht der Tätigkeit an der im Sommer 1969 errichteten Forschungsstelle der Arnold Schönberg-Gesamtausgabe in Berlin. Allerdings wurden Vorarbeiten, die Jahre weiter zurückliegen, benutzt, aber erst in Berlin wurde die Arbeit zügig vorangetrieben und schließlich vollendet. Die Forschungsstelle ist kein selbständiges Institut mit einem eigenen Statut, sondern ein Büro, in welchem die Arbeiten durchgeführt werden. Es enthält eine (noch immer nicht ganz komplette) Sammlung von Ausgaben der Werke und Schriften Schönbergs, den gesamten handschriftlichen musikalischen Nachlaß, der sich noch in Los Angeles befindet, zum Zwecke der Verwertung bei der Herausgabe der Gesamtausgabe auf Mikrofilm, große Mengen von photographischen Abzügen und Xerokopien. Die Erfassung der Quellen, bis vor einigen Jahren seltsam vernachlässigt, ist ebenfalls noch nicht abgeschlossen, aber sie geht jetzt, wie alle andere Arbeit, planmäßig voran. Die Drucke sind mittlerweile wohl vollständig erfaßt, die Originalmanuskripte, soweit sie im Nachlaß, in Verlagsarchiven und in öffentlichen Bibliotheken vor allein der Vereinigten Staaten von Amerika vorhanden sind, zum größten Teil photographiert, zum anderen wenigstens inventarisiert. Noch ist manches, was sich in Privatbesitz befindet, derzeit unzugänglich, aber wenigstens sind die Spuren gefunden, die eines schönen Tages, wenn es den Besitzern beliebt, zum Ziel führen werden. Besondere Probleme ergeben sich allerdings aus der räumlichen Distanz zum Nachlaß …

Alle diese Gründe (und manche nicht genannte) haben uns bei der Planung der Weiterführung der Arbeit veranlaßt, zunächst solche Werke im Rahmen der Gesamtausgabe zu veröffentlichen, deren Quellen sich überwiegend in Europa befinden, oder wo die Quellenlage bereits einen vollständigen Überblick gestattet, so daß eine Ausgabe in diesem Rahmen sich rechtfertigen läßt. So ist zunächst mit der Bearbeitung des Komplexes „Instrumentationen“ (A 25, A 26, B 25/26) begonnen worden. Noch dieses Jahr wird die erste gestochene Partitur des Klavierquartetts g-Moll op. 25 von Johannes Brahms in Schönbergs Instrumentation für großes Orchester (A 26) erscheinen. Die anderen Orchestrationen werden dann nebst dem dazugehörigen Band der Serie B, der Quellenbeschreibungen und Revisionsberichte enthalten wird, nächstes Jahr folgen. Auch an der Herausgabe der Instrumenralkonzerte nach Georg Friedrich Händel und Matthias Georg Monn wird gearbeitet.

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Lied „Erwartung“ (Richard Dehmel) op. 2, 1, Takt 15 bis 28, Autograph mit Korrekturen © Arnold Schönberg Center, Wien

Der zweite Komplex, dessen wissenschaftliche Bearbeitung nun auch schon nahezu abgeschlossen ist, ist der der Klavierwerke. Bereits 1968 ist der Band mit den Werken für Klavier zu zwei Händen (A 3) herausgekommen – er enthält neben den bekannten Klavierwerken einige bisher ungedruckte Stücke aus Schönbergs Jugendzeit. Der Ergänzungsband (B 3), der zunächst einmal die Quellenbeschreibungen und den Revisionsbericht, dann aber auch Skizzen und vor allem eine ganze Anzahl bisher unveröffentlichter unvollendeter Kompositionen enthält, wird gerade gedruckt. Dieser Band ist insofern von erheblicher Bedeutung, als in ihm die Entstehungsgeschichte der Kompositionstechnik mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen anhand der Skizzen zur Klaviersuite op. 25 dargestellt wird. Der zweite Band dieses Komplexes (A 4) enthält die Werke für Orgel, die Werke für zwei Klaviere zu vier Händen sowie die für ein Klavier zu vier Händen. Er bietet zunächst einmal eine verläßliche, den Intentionen Schönbergs entsprechende Ausgabe der „Variationen über ein Rezitativ“ op. 43 für Orgel, ein Werk, dessen Bedeutung für die Entwicklung der Orgelmusik immer deutlicher wird. Der Notentext, wie er jetzt erscheint, gibt der Ausgabe den Rang einer Erstausgabe. Daneben erscheint das Fragment einer Orgelsonate, bestehend aus einer vollständigen Sonatensatzexposition, das in der Technik mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen geschrieben ist und in den Umkreis des Klavierkonzerts gehört, zu dessen Gunsten es schließlich aufgegeben wurde. Auch dieses Fragment wird ja heute, obgleich noch keine gedruckte Ausgabe vorliegt, nicht selten öffentlich vorgetragen. Die anderen Werke dieses Bandes sind bisher ungedruckt. Von der Fassung der zweiten Kammersymphonie für zwei Klaviere op. 38 B gibt es bisher nur Abzüge von den originalen Transparenten, aber keine gedruckte Ausgabe. Dabei kann diese Fassung für sich durchaus Selbständigkeit in Anspruch nehmen. Sie ist zeitlich nach der Orchesterfassung entstanden und unterscheidet sich in manchen Details. Sie hat immerhin etwa die gleiche Bedeutung als eigenständige Version wie die Sonate für zwei Klaviere nach dem Klavierquintett f-moll von Johannes Brahms oder die zweiklavierige Fassung der Haydn-Variationen. Geschlossen wird dieser so viel Neues bietende Band von dem früher wohl gelegentlich gespielten, aber niemals gedruckten authentischen vierhändigen Auszug der ersten Kammersymphonie (op. 9). Dieses Werk, wohl das erste Hauptwerk der Schule, diente als Musterstück im Unterricht, und es ist sicher kein Zufall, daß die berühmten zehn öffentlichen Proben, die zur Gründung des Vereins für musikalische Privataufführungen geführt haben, die ersten großen Veranstaltungen waren, die Schönberg nach seiner Entlassung aus dem Kriegsdienst durchgeführt hat. Es ist auch kein Zufall, daß es eine ganze Anzahl Klavierauszüge gerade von diesem Werk gibt. So hat Alban Berg lange an einem vierhändigen Auszug gearbeitet, gedruckt wurde später der von Felix Greißle. Und Eduard Steuermann hat einen zweihändigen Auszug verfertigt, der von berufener Seite sogleich als mustergültig erkannt worden ist. Er wurde sogar gelegentlich öffentlich vorgetragen. Von allen Auszügen ist der von Schönberg selbst stammende für Klavier zu vier Händen der älteste und der Öffentlichkeit bisher ganz unbekannt. Der zu diesem Band gehörige Ergänzungsband (B 4) wird, außer den üblichen Beschreibungen und textkritischen Anmerkungen, umfangreiches Skizzenmaterial zu den Orgelvariationen enthalten. Nirgends ist dieses Material so reich wie bei den tonalen Spätwerken. Diese sind stets unter anderem auch Lehrwerke: eine hohe Schule der Kunst des Kontrapunkts und der Bearbeitung. Im Zusammenhang mit den Orgelvariationen wird erstmalig einer dieser Komplexe von Skizzen zu einem der tonalen Spätwerke in extenso veröffentlicht.

Aus alledem ist zu ersehen, daß die Bände der Serie B, die in etwas kleinerem Format als die der Serie A erscheinen, sehr wichtiges Material enthalten. Sie werden über den wissenschaftlichen Apparat und die Edition von Skizzen und Frühfassungen hinaus auch die Darstellung der Entstehungsgeschichte, gegebenenfalls auch eine Darstellung der Besonderheiten der Kompositionstechnik enthalten, In vielen Fällen bedarf ja das Material sogleich der Deutung, damit es überhaupt verständlich wird. In solchen Fällen wird versucht, die Skizze und den Kommentar so zu drucken, daß beide zugleich gelesen und studiert werden können. Oftmals bedarf eine Skizze der Herauslösung aus dem Zusammenhang, in welchem sie steht. Dieser Zusammenhang muß dann selbstverständlich beschrieben werden, so daß sich die zufällige Anordnung des Stoffes rekonstruieren läßt, er selbst aber in der Ausgabe geordnet dargeboten erscheint. Wie es zu der zufälligen Anordnung, die nicht selten Unordnung ist, gekommen ist, läßt sich jeweils aus der Beschreibung des Entstehungsprozesses entnehmen. Die selbständigen Bände der Serie B ermöglichen demnach nicht nur eine Kontrolle des Notentextes, wie ihn die Serie A bietet, sondern zugleich einen Vergleich zwischen Skizzen und Endfassung.

Der Wunsch, auch die verschiedenen authentischen Fassungen eines Werkes bequem miteinander vergleichbar zu machen, hat zu einer besonderen Art von Disposition der ganzen Ausgabe geführt. Die verschiedenen Fassungen eines Werkes erscheinen grundsätzlich in verschiedenen Bänden, so daß man sie tatsächlich nebeneinander legen kann. Das kompliziert vielleicht etwas die Arbeit der Herausgeber, dürfte aber die Benutzbarkeit der Ausgabe erheblich steigern.

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Lied „Geübtes Herz“ (Gottfried Keller) op. 3, 5, ab Takt 20, datiertes Autograph mit Korrekturen © Arnold Schönberg Center, Wien

Von der Schönberg-Gesamtausgabe waren bisher, wie bereits angedeutet, zwei Bände erschienen. Vom Klavierband (A 3) war schon kurz die Rede. Der allererste Band erschien bereits 1966. Er enthielt die Lieder mit Klavierbegleitung, darunter zwei bisher unbekannte, von denen eines, das tonartfreie „Am Strande“ (Februar 1909), nun allerdings in jeder Hinsicht, nicht nur vom Standpunkt des Historikers aus, zu den entscheidenden Werken Schönbergs zu zählen ist. Während der Vorbereitung dieses Bandes hatte sich seinerzeit die Notwendigkeit der Teilung ergeben. Es wird also zu dem bereits erschienenen noch ein weiterer Band „Lieder mit Klavierbegleitung“ erscheinen. Er wird ausschließlich bisher unpublizierte Kompositionen, meist Jugendlieder, enthalten, daneben aber auch sogenannte Brettl-Lieder, die Schönberg während seiner ersten Berliner Zeit für Wolzogens literarisches Kabarett, das „Überbrettl“, geschrieben hat. Diese natürlich nur insoweit, als sie allein vorn Klavier begleitet werden. Dieser zweite Band, der wesentlichen Einblick in Schönbergs Entwicklung gestatten wird, soll im kommenden Jahr erscheinen.

Da bisher leider kein Revisionsbericht zu dem als erstem erschienenen Liederband vorhanden ist – die Gründe dafür sind vielfältig und hier nicht zu erörtern – und mit einem solchen Bericht auch in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist, soll jetzt wenigstens ein Teilband erscheinen, der einerseits die Faksimilia früherer Fassungen sowie die von Skizzen und Entwürfen, andererseits einige Frühfassungen gestochen enthalten wird. Ein solcher Faksimileband wurde noch von Frau Gertrud Schönberg, deren Anregung die Gesamtausgabe insgesamt zu danken ist, geplant, einige Vorarbeiten wurden auch schon vor Jahren geleistet. Aber auch diese Arbeit blieb, wie so manches andere aus der früheren Entwicklungsphase der Ausgabe, unfertig liegen. Jetzt wurde dieser ganze Komplex neu disponiert, das Material entscheidend vermehrt, das Ganze mit einem ausführlichen Kommentar versehen. Mit dem Erscheinen dieses Teilbandes (B 1, 1) in absehbarer Zeit wäre immerhin die Arbeit an der Herausgabe des sehr umfangreichen Liedschaffens von Schönberg, soweit vorangetrieben, als dies zur Zeit überhaupt möglich ist.